Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Autoren:
Vom Netzwerk:
oder?«
    Ich war nicht ganz sicher, wem die Frage galt oder ob er etwa eine Antwort auf seine Bemerkung über Frauen und Pünktlichkeit erwartete, und zog mich hastig aus der Affäre, indem ich auf meine Armbanduhr sah. Flemming hatte uns für acht hierher bestellt und bis dahin waren noch gute zehn Minuten Zeit. Ich war ein wenig überrascht — als ich hereingekommen war, wäre ich jede Wette eingegangen, dass es schon viel später wäre.
    »Noch hat sie ein paar Minuten«, sagte ich — was mir einen kurzen, aber eindeutig freundlichen Blick von Pummelchen (Judith, wenn ich Eds wedelnde Handbewegung richtig interpretiert hatte — eigentlich hätte das viel besser zu der Rothaarigen gepasst; nomen est anscheinend doch nicht immer omen) einbrachte. Ed stieß einen anerkennenden Pfiff aus, während sein Blick über das schlichte Mattsilber meiner Tissot glitt.
    »Das ist ja ein Prachtstück«, sagte er.
    Ich beließ es bei einem Achselzucken und schüttelte den Jackenärmel wieder herunter. Ed hatte durchaus Recht. Die Uhr war das mit Abstand Wertvollste, was ich besaß (und übrigens je besessen hatte), und soweit es mich anging, konnte er daraus so viele falsche Schlüsse ziehen, wie er wollte. Ich hatte den Edelwecker vor zwei Jahren beim Pokern gewonnen; von irgendeinem armen Trottel, der das Spiel noch weniger beherrschte als ich und dem das Schicksal noch weniger wohlgesinnt war. Ich hätte die Tissot längst verkauft, aber ich hatte einfach noch niemanden gefunden, der bereit gewesen war, auch nur einen vernünftigen Bruchteil ihres Wertes zu bezahlen.
    »Wenn ihr die anderen fünf — vier — seid«, fragte ich, »wo ist dann Flemming?«
    »Ja, wo is’ er denn?« Stefan grinste triumphierend. Sehr komisch! Er gab sich wirklich alle Mühe, meine Vorurteile gegen 100-Kilo-Muskelpakete mit Streichholzkopfkurzen Haaren und nicht wesentlich höherer Stirn zu bestätigen.
    Ed verdrehte die Augen (wohlweislich so, dass Stefan es nicht sah) und antwortete rasch: »Unser spendabler Wohltäter ist bereits da.« Er machte eine Kopfbewegung auf die Schiebetür. »Er wartet schon seit einer Stunde da drinnen. Er hat bisher zwei Kaffee, ein großes Bier und ein Stück Käsekuchen bestellt.«
    »Apfelkuchen«, widersprach Judith. »Ich bin ziemlich sicher, es war Apfelkuchen.«
    Was für ein kolossaler Unterschied! »Warum gehen wir dann nicht hinein?«, fragte ich.
    »Weil Zerberus es nicht zulässt«, antwortete Ed mit einer entsprechenden Geste zum Wirt hin. »Er sagt, wir dürfen erst rein, wenn alle da sind.«
    »Und wie will er uns daran hindern?«, fragte ich.
    »Vielleicht gewaltsam?«
    Die Worte taten mir augenblicklich wieder Leid. Weder Ed noch einer der anderen antwortete darauf, aber natürlich sah ich die Reaktion auf ihren Gesichtern und in ihren Augen. Irgendein perverser selbstzerstörerischer Teil meines Egos schien es darauf angelegt zu haben, gleich im ersten Moment einen möglichst schlechten Eindruck zu hinterlassen. Und er machte seinen Job ziemlich gut.
    Wenigstens einmal an diesem Tag hatte das Schicksal ein Einsehen mit mir, denn in diesem Augenblick ging die Tür auf und eine junge Frau in einem einfarbigen Tweedkostüm und schweren Wanderschuhen betrat die Taube. Sie hatte blassblondes Haar, das zu etwas wie einer Unfrisur geschnitten war (ein besseres Wort dafür fiel mir nicht ein), und ihr altmodisches Kostüm war nicht nur viel zu dünn für die Jahreszeit, sondern trotz allem auch das mit Abstand Farbenfrohste an ihr. Wenn ich jemals eine Frau getroffen hatte, auf die die Bezeichnung graue Maus zutraf, dann sie.
    »Guten Abend«, sagte sie, laut und gerade aufgesetzt selbstsicher genug, um auch wirklich jedem begreiflich zu machen, dass sie innerlich vor Nervosität fast starb. »Mein Name ist Gärtner, Maria Gärtner. Ich bin hier mit Herrn Flemming vom Anwaltsbüro Flemming & Sohn verabredet.«
    Zerberus deutete nur mit einer Kopfbewegung auf den Tisch und polierte weiter an seinem Glas herum; wahrscheinlich war es immer noch dasselbe, an dem er schon herumgewienert hatte, als ich hereingekommen war.
    »Die da warten auch auf ihn«, muffelte er. Anscheinend hatte er für Gäste, die nichts verzehrten, nicht besonders viel übrig.
    Maria bedankte sich mit einem nervösen Kopfnicken und kam näher. Ihre schweren Wanderschuhe polterten auf dem Boden, und sie ging schräg gebeugt unter der Last des großen Koffers, den sie mit sich schleppte. Nur die allernötigsten persönlichen Dinge,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher