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Nebelschleier

Titel: Nebelschleier
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Schlafkammer hochstieg, war er todmüde. Nicht zuletzt machten sich auch die zahlreich genossenen Obstbrände bemerkbar. So fiel er in sein Bett, und der beruhigende Gedanke, am nächsten Abend wieder zu Hause in Lübeck zu sein, ließ ihn sofort einschlafen.

Nach Hause
    Endlich saß Angermüller im Zug, der sich durch den grauen Oktobermontag nach Südwesten bewegte, obwohl sein Reiseziel ziemlich genau im Norden lag. Sämtliche direkten Verbindungen in das nördlich angrenzende Thüringen waren in den Zeiten deutscher Zweistaatlichkeit nach dem Krieg gekappt worden und das Coburger Land hatte sein Dasein in einem verschlafenen, abgelegenen Winkel gefristet. Zwar war die Teilung mittlerweile aufgehoben, doch die alten Verbindungen noch lange nicht wiederhergestellt. Dreimal musste Angermüller den Zug wechseln, bis er endlich in Würzburg den Intercity bestieg. Mehr als drei Stunden lagen vor ihm bis Hamburg.
    »Schö, dass de ma wieder da gewesen bist! Aber des nächste Mal, wenn de kümmst, passiert mir fei net gleich wieder e Mord!«, hatte seine Mutter zum Abschied gesagt, mit dem Finger gedroht und es auch genau so gemeint. Winkend stand sie dann unter dem Dach der Veranda, als er am Vormittag mit Marga nach Oeslau zum Bahnhof aufbrach. Beim letzten Blick zurück auf die alte Frau fragte sich Angermüller, wann er sie wohl wiedersehen würde und wie es ihr dann wohl ginge. Ja, selbst der Gedanke, ob er sie wiedersehen würde, ging ihm durch den Kopf.
    Das Wetter war zum Abreisen gemacht. Die Veste verbarg sich über dem Bausenberg hinter dicken Nebelschwaden, und als er noch ein letztes Mal durch Coburgs Gassen schlenderte, um seinen Lieben daheim ein paar Mitbringsel zu besorgen, kroch ihm eine feuchte Kälte unter die Jacke. Endlich hatte er Coburger Goldschmätzchen, feinste Confiserie aus dem Frankenwald, ein paar Gläser fränkischer Hausmacher Wurst und edle Bocksbeutel zusammen. Zum Abschied verzehrte er noch eine Bratwurst auf dem Markt, die ihm erstaunlicherweise auch bei dieser Witterung, im Freien genossen, bestens mundete.
    Der Zug nach Hamburg war ziemlich leer. Von den Weinbergen bei Würzburg bis in die Lüneburger Heide begleiteten ihn schwere, dunkle Wolkenwände und der Regen malte von außen winzige Perlenschnüre an die Fenster des Abteils. Angermüller war mit sich und seinen Gedanken allein. Sie kreisten alle um dasselbe Thema und es gab jetzt kein Ausweichen mehr. Er musste sich mit dem Part auseinandersetzen, den er im Mordfall Steinlein gespielt hatte. Nun gut, er konnte für sich in Anspruch nehmen, unfreiwillig als Privatperson in die Angelegenheit verwickelt worden zu sein – aber war das wirklich eine Entschuldigung? Natürlich war er allein auf sich gestellt gewesen, hatte nicht die Recherchemöglichkeiten der Coburger Kollegen, nicht den ganzen Apparat von Spurensicherung und Kriminaltechnik – doch genau wie sie verfügte auch er über seinen Verstand, seine Erfahrung und die Fähigkeit zu nüchterner Analyse.
    Er hatte sich wie ein Anfänger benommen und den wohl größten Fehler in seiner Zeit als Kriminalist gemacht. Es war, wie Sabine Zapf gemutmaßt hatte: Aufgrund seiner persönlichen Beziehungen zu potenziell Verdächtigen aus dem Umfeld des Opfers hatte er diese von vornherein als infrage kommende Täter ausgeklammert. Hatte er sich bei Johannes und Bea noch bemüht, seine Unschuldsvermutung bestätigt zu erhalten, so hatte er bei Paola nicht einmal die Notwendigkeit dafür gesehen. Sie hatte auf der Klaviatur seiner männlichen Eitelkeit gespielt und er war dem Wunsch nach Bestätigung vollkommen erlegen. Paola hatte erreicht, was sie erreichen wollte: Er hatte sich völlig blind gegenüber der Realität verhalten. Natürlich hätte er die Schuld an seinem Versagen allein ihr und ihrer berechnenden Umgarnung zuschieben können, doch er wusste, es gehörte auch immer jemand dazu, der bereit war, sich umgarnen zu lassen. Und schließlich schaffte er es nicht einmal, Paola für ihr Verhalten ihm gegenüber böse zu sein. Letztendlich empfand er einfach nur ganz großes Mitleid mit ihr. Sein angekratztes Selbstbewusstsein würde sich wieder erholen, aber was war mit ihr, wenn sie in einigen Jahren aus dem Gefängnis kam?
    Es waren keine angenehmen Stunden, die er mit all den Analysen seiner unrühmlichen Rolle im Fall Steinlein, peinlichen Selbsterkenntnissen und vielen Grübeleien zubrachte. Erst als er für sich beschloss, dass Fehler auch eine Chance und dazu da waren,
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