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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition)
Autoren: H. J. Anderegg
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eigenwillige Mutter. Sie hätte ihr die Teilnahme kategorisch verbieten müssen. Hätte, müsste, sollte – jetzt war es zu spät.
    Sie stieß einen deutlich vernehmbaren Fluch aus, dessen Bedeutung allen Umstehenden sofort klar war, obwohl er zum Wortschatz ihrer Muttersprache gehörte. Die grinsenden Gesichter der Männer stachelten sie noch mehr an. »Ich brauche einen Suchtrupp«, schnauzte sie. »Sechs Männer, wir beginnen bei diesem Schuppen!«
    Kleinlaut folgte ihr der Inspektor mit seinen Leuten. Sie fanden die Lagerhalle verschlossen vor, wie sie sie verlassen hatten. Einer der Polizisten tippte den Code von einem Zettel ab. Das Tor schwang auf. Audrey hatte das Kommando übernommen. Sie ließ die Männer ausschwärmen, ging selbst mit dem Inspektor langsam dem mittleren Korridor entlang. In periodischen Abständen rief sie nach Leo. Die Antwort war nur das Echo ihrer Stimme. Ihre Mutter war nicht in der Halle. Das begriff sie lange bevor sie die Suche abbrach. Durchs offene Tor drang ein scharfer Knall ins Haus, gleich danach ein zweiter. Draußen setzte heftiger Regen ein. Vielleicht trieb das Sommergewitter Leo endlich ins Hauptgebäude zurück. Der Inspektor verlangte über Funk einen Lagebericht, dann schüttelte er bedauernd den Kopf.
    »Gehen wir«, sagte sie bedrückt und folgte den Männern zum Ausgang. Einmal mehr nahm sie das Handy aus der Tasche. Sie war schon fast am Tor, als sie wie erstarrt stehenblieb. »Halt!«, rief sie aufgeregt. Ein bekannter Piepston überlagerte das Grollen des Donners. Er schwoll zu beachtlicher Lautstärke an, je länger sie läuten ließ. »Leos Handy«, erklärte sie hastig und rannte auf die Tonquelle zu. Das Telefon steckte zwischen zwei braunen Flaschen auf dem Regal an der Rückwand, zusammen mit der Visitenkarte des Inspektors.
    »Was zum Teufel ...«, brummte er bestürzt.
    Audrey starrte den merkwürdigen Fundort nachdenklich an. Keine weitere Spur von Leo. Was war hier los? Die Erkenntnis durchfuhr sie, als hätte sie der Blitz getroffen, der in diesem Moment vor dem Haus niederging. »Zu kurz«, rief sie aus. So geräumig dieses Lager war, es war zu kurz. Die Umstehenden schienen nicht zu begreifen. »Verstehen Sie? Das Gebäude ist viel länger als diese Halle. Das hier ist nur eine Zwischenwand.«
    Der Inspektor schaute sich misstrauisch um. »Könnte sein, jetzt wo Sie’s sagen«, gab er zähneknirschend zu. Er hielt sein Funkgerät an die Lippen und brüllte hinein: »Bringt mir den verfluchten Direktor in die Halle, aber gestern!«
    In Handschellen, mit gesenktem Blick wie ein ertappter Dieb trottete der Direktor wenig später zwischen zwei Beamten zum Regal und öffnete wortlos den versteckten Zugang zum hinteren Teil des Gebäudes. Audrey hatte keine Zeit, sich über die Geheimtür und den Zweck der Maschinerie am Ende des Tunnels zu wundern. Sie kannte nur noch ein Ziel.
    »Wo ist sie?«, fragte sie den Direktor mit eisigem Blick. Ihre Stimme bebte vor verhaltener Wut.
    Gebrochen stotterte er: »Ich – weiß nicht ...«
    »Wissen Sie überhaupt etwas? Lassen Sie den Scheiß! Sie sind verantwortlich, wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird. Ist Ihnen das, verdammt noch mal, nicht klar?«
    »Ich – vielleicht oben.«
    Sie fasste es nicht. Er schien allen Ernstes nicht zu kapieren, was in seiner Firma vorging. Sie rannte voran die Rampe hinauf, stürmte in jedes der Zimmer und rief nach Leo. Sie ahnte nicht, dass nur wenige Minuten vergangen waren, seit ihre Mutter dieselbe Tür am Ende des Flurs aufgestoßen hatte. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Ihr Magen drehte sich um. Sie würgte, versuchte den Brechreiz zu kontrollieren, aber der Schock saß zu tief. Gerade als der Inspektor hinter ihr durch die Tür trat und angewidert aufstöhnte, kotzte sie ihm vor die Füße.
    Sie schaute schweigend, ungläubig, mit weit aufgerissenen Augen ins Halbdunkel dieser Schreckenskammer. Auch der Inspektor und seine Leute brachten kein Wort über die Lippen. Auf den ersten Blick erinnerte die Einrichtung an die Intensivstation eines Krankenhauses. Sechs Türme mit summenden und periodisch zischenden Apparaten und Monitoren mit Herzstrom- und Blutdruckkurven waren durch Kabel und Schläuche mit einer Art von Glassärgen verbunden, die wie überdimensionierte Brutkästen aussahen. Nur lagen keine winzigen Frühchen darin, sondern bis zum Skelett abgemagerte nackte Menschen. Ihre Köpfe steckten in Helmen, aus denen hunderte von Drähten quollen. Es sah aus,
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