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Narziss und Goldmund

Titel: Narziss und Goldmund
Autoren: Hermann Hesse
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fragte sie. Ihre schüchterne Stimme war nur ein Hauch.
    Goldmund schüttelte den Kopf. Sie streckte ihre beiden Hände aus, faßte seinen Kopf, warm fühlte er die kleinen Hände an seinen Schläfen. Sie beugte sich tief herab, bis ihre dunklen Augen dicht vor den seinen waren.
    »Komm wieder!« flüsterte sie, und ihr Mund berührte den seinen in einem kindlichen Kuß.
    Schnell lief er den andern nach durch den kleinen Garten, taumelte über die Beete, roch feuchte Erde und Mist, riß sich die Hand an einem Rosenstrauch wund, kletterte über den Zaun und trabte den andern nach zum Dorf hinaus, dem Walde entgegen. »Niemals mehr!« sagte befehlend sein Wille. »Morgen wieder!« flehte schluchzend sein Herz.
    Niemand begegnete den Nachtvögeln, unbehelligt kamen sie nach Mariabronn zurück, über den Bach, durch die Mühle, über den Lindenplatz und auf Schleichwegen über Vordächer und durch säulengeteilte Fenster ins Kloster und in den Schlafsaal.
    Am Morgen mußte der lange Eberhard mit Püffen geweckt werden, so schwer war sein Schlaf. Alle waren sie rechtzeitig in der Frühmesse, bei der Morgensuppe und im Hörsaal; aber Goldmund sah schlecht aus, so schlecht, daß Pater Martin ihn fragte, ob er krank sei. Adolf warf ihm einen warnenden Blick zu, und er sagte, ihm fehle nichts.
    Im Griechischen aber, gegen Mittag, ließ Narziß ihn nicht aus den Augen. Auch er sah, daß Goldmund krank sei, schwieg aber und beobachtete ihn scharf. Am Ende der Lektion rief er ihn zu sich. Um die Schüler nicht aufmerksam zu machen, schickte er ihn mit einem Auftrag in die Bibliothek. Dorthin ging er ihm nach.
    »Goldmund«, sagte er, »kann ich dir beistehen? Ich sehe, daß du in Not bist. Vielleicht bist du krank. Dann legen wir dich zu Bett und schicken dir eine Krankensuppe und ein Glas Wein. Du hast heut keinen Kopf fürs Griechische.«
    Lange wartete er auf eine Antwort. Aus verstörten Augen sah der bleiche Knabe zu ihm her, senkte den Kopf, hob ihn wieder, zuckte mit den Lippen, wollte sprechen, konnte es nicht. Plötzlich sank er zur Seite, lehnte den Kopf auf ein Lesepult, zwischen die beiden kleinen Engelsköpfe aus Eichenholz, die das Pult einfaßten, und brach in ein solches Weinen aus, daß Narziß sich verlegen fühlte und eine Weile den Blick abwandte, ehe er den Schluchzenden anfaßte und aufhob.
    »Nun ja«, sagte er freundlicher, als Goldmund ihn je hatte sprechen hören, »nun ja, amice, weine nur, es wird dir bald besser sein. So, setz dich, du brauchst nicht zu sprechen. Ich sehe, du hast genug; wahrscheinlich hast du schon den ganzen Morgen Mühe gehabt, dich aufrecht zu halten und dir nichts anmerken zu lassen, sehr brav hast du das gemacht. Weine jetzt nur, es ist das Beste, was du tun kannst. Nein? Schon fertig? Schon wieder aufrecht?
    Nun ja, dann gehn wir jetzt in die Krankenstube, und du legst dich ins Bett, und heut abend wird dir schon viel besser sein. Komm nur!«
    Er führte ihn, unter Umgehung der Schülerstuben, in ein Krankenzimmer, wies ihm eines der beiden leeren Betten an und ging, als Goldmund sich folgsam auszukleiden begann, hinaus, um ihn beim Vorsteher krank zu melden.
    Er bestellte auch, wie versprochen, eine Suppe und ein Glas Krankenwein für ihn in der Speisung; diese beiden klosterüblichen benefic ia waren bei den meisten Leicht kranken sehr beliebt.
    Im Krankenbett lag Goldmund und suchte sich aus seiner Verwirrung zurückzufinden. Vor einer Stunde vielleicht hätte er sich klarzumachen vermocht, was ihn heute so unsäglich müde machte, was für eine tödliche Überanstrengung der Seele es war, die ihm den Kopf leer und die Augen brennen machte. Es war die gewaltsame, in jeder Minute erneute, in jeder Minute mißglückende Anstrengung, den gestrigen Abend zu vergessen – vielmehr nicht den Abend, nicht den törichten und hübschen Ausflug aus dem geschlossenen Kloster, nicht die Wanderung im Walde, noch den schlüpfrigen Notsteg über den schwarzen Mühlbach oder das Aus— und Einsteigen über Zäune, durch Fenster und Gänge, sondern einzig den Augenblick an jenem dunklen Küchenfenster, den Atem und die Worte des Mädchens, den Griff ihrer Hände, den Kuß ihrer Lippen.
    Aber jetzt war noch etwas hinzugekommen, ein neuer Schreck, ein neues Erlebnis. Narziß hatte sich seiner angenommen, Narziß liebte ihn, Narziß hatte sich um ihn bemüht – er, der Feine, Vornehme, der Kluge mit dem schmalen, leicht spöttischen Munde. Und er, er hatte sich vor ihm gehenlassen, war
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