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Naechte der Leidenschaft + Berlins Blut

Naechte der Leidenschaft + Berlins Blut

Titel: Naechte der Leidenschaft + Berlins Blut
Autoren: Ivy Anderson
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sich an den jüdischen Ungarn:
    „Habe ich dir das erlaubt?“, fuhr er ihn an.
    Doch der verstand scheinbar kein Russisch oder tat listigerweise zumindest so. Er aß unbeeindruckt weiter. Wir mussten unwillkürlich schmunzeln.
    Die Ungarn waren Kriegsgefangene, die die Bolschewiken gegen das Geschenk der Freiheit in ihre Garden gepresst hatten. Einige hatten zuvor gegen das gleiche Versprechen in der früheren Zarenarmee gedient. Unter den Bewachern waren etwa zehn Ungarn. So wollte man sicherstellen, dass nicht etwa russische Bewacher die Seiten wechselten und uns bei der Flucht halfen. Der Kommandant Michail Jurowski, nahm an, dass wir den Ungarn egal und sie deswegen besser für die Bewachung geeignet wären. Dabei hatte er aber übersehen, dass die Ungarn meist Deutsch sprachen.
    Er selbst unterhielt sich mit den ungarischen Wächtern auf Jiddisch, da die meisten von diesen es aufgrund ihrer Herkunft beherrschten. Da viele Bolschewiki wie Lenin, Trotzki und auch Swerdlow auf diese Weise miteinander verbunden waren, glaubten viele Adelige in der Revolution eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung zu erkennen.
    Der Ungar und sein Hauptmann verließen das Zimmer. Wir atmeten befreit auf.
    „Lasst uns ein wenig lesen!“, schlug Mama vor.
    Wir erwiderten nichts. Andere Ablenkungen gab es im Moment nicht. Etwas Trost war immer gut.
    „Außenkommandant Medwedew hat heute besonders böse geschaut“, stellte Alexej fest.
    Er wirkte noch sehr mitgenommen von den Entbehrungen der letzten Monate. In Tobolsk war er beim Schlittern auf dem Eis gestürzt und musste seitdem im Rollstuhl sitzen. Ohne Rasputin war die Gefahr, dass er an einem Hämatom starb, zu groß.
    Die Angst und die Entbehrungen der letzen Monate erschwerten seine Genesung zusätzlich. Wie sollte ein Vierzehnjähriger diese Bedrohungen alle verstehen?
    „Das bildest du dir nur ein“, lenkte Papa ihn ab.
    „Er ist immer etwas übellaunig!“
    „Ich lese heute freiwillig“, bot Tatjana sich an.
    Sie wollte sich immer etwas hervortun. Ich hatte mich damit abgefunden. Es gab heutzutage wahrlich Wichtigeres als die Rangordnung unter Geschwistern.
    Papa hatte mich als Älteste immer etwas bevorzugt. Außerdem gab es zwischen mir und ihm ein ganz besonderes Band. Wir waren so etwas wie Seelenverwandte und verstanden uns auch ohne Worte. Mama hielt mir deswegen manchmal vor, ich liebe ihn mehr. Das war aber nicht so. Es war eine andere Liebe.
    Die Not und die Ängste der Verbannung hatten uns beide tatsächlich noch mehr zusammengeführt. Papa ließ das Tatjana aber nicht merken. Oft schauten er und ich uns nur an und wir sahen alle Gedanken im Gesicht des anderen. Das bedurfte keiner Worte mehr. Dann traten Tränen in unsere Augen. Wir verbargen diese jedoch vor den anderen.
    Tatjana ging in ihr Zimmer, um die Bücher zu holen. Unsere kleine Gruppe saß wortlos und wartete.
    Plötzlich hörten wir dumpfen Kanonendonner. Erschrockene Blicke wanderten zu den weiß getünchten Fenstern, allerdings konnte man nicht hinaussehen.
    Mama wirkte aufgeregt, ein Hoffnungsschimmer belebte ihr Antlitz. In Papas Gesicht spiegelten sich Sorgen wider.
    „Was bedeutet das?“, wagte Anastasija zu fragen.
    „Die Front rückt näher“, erklärte Papa. „Still!“
    Weiterer Donner drang an unser Ohr.
    „Kam das von der anderen Seite?“, fragte Mama mit großen Augen.
    Papa wirkte nervös. Dies übertrug sich natürlich auf uns.
    „Ich glaube, ja“, murmelte er auf weitere Böller lauschend.
    „Es kommt von drei Seiten. Sie schließen die Stadt ein!“, erklärte er.
    Die Röte des Gesichtes zeigte seine Erregung.
    Tatjana trat ein. Sie hatte mehrere Bücher dabei. Ich erkannte die Buchrücken.
    Die Werke hatte uns Mama geschenkt. Es waren „Das Leben und die Wunder des Heiligen Gerechten Symeon von Werknjaja Tura“ und „Der Trost im Tode derer, die unseren Herzen nahe sind.“
    Zum Glück hatte sie nicht das langweilige Buch „Die Wohltaten der Gottesmutter an die Menschheit durch ihre heiligen Ikonen“ mitgebracht. Das war eines der besten Schlafmittel und passte nicht zur jetzigen Stimmung.
    „Habt ihr das auch gehört?“, stieß sie beim Eintreten hervor.
    Sie ging barfuß, da Schuhe wegen ihrer Spreizfüße oft drückten. Mama sah das nicht so gern, da sie es unwürdig für eine Zarentochter fand. Hier im Ipatjew-Haus hatte sie ihren Protest jedoch aufgegeben und sich mit unserem Niedergang abgefunden hatte.
    „Wir sind doch nicht taub!“,
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