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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt
Autoren: Tanja Langer
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Weiße mit Schuss und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Sie erzählte und redete
     und fragte und lachte. Ein Glückskind, dachte ich, wenn ich sie ansah. Selbst in ihren sprunghaften Gesten lag eine ungeheure
     Zärtlichkeit für alles. Ich war stolz darauf, mit ihr an einem der hellen Tische zu sitzen, ich übersah keineswegs die Blicke
     der anderen Männer, sogar Frauen. Ich konnte es nicht fassen, dass diese lebendige, schöne Frau sich ausgerechnet mich ausgesucht
     hatte. Du bist anders als die andern, sagte sie, das mag ich. Sie brachte mich oft zum Lachen; und sie lockte meinen eigenen
     Humor hervor. Ich hatte gar nicht gewusst, wie witzig ich sein konnte. Ich war überrascht, dass sich jemand so sehr für meine
     Gedanken interessierte; Eva fragte mich nach allem und jedem; und sie hörte zu.
    Mich beschäftigten damals die Grundlagen der Rechtsphilosophie, das heißt Fragen des Naturrechts. Gleich zu Beginn meines
     Studiums war ich in meiner bis dahin ungetrübt naiven Vorstellung erschüttert worden, dass die Idee des Rechts oder der Menschenrechte
     naturwüchsig wären, oder von Gott gegeben. Ich begriff, dass es sich um komplizierte Konstruktionen der Menschen handelte.
     Ich studierte Rechtsgeschichte und belegte philosophische Seminare über Geschichtskonzeptionen; ich las Bücher wie Löwiths
     ›Weltgeschichte und Heilsgeschehen‹ oder Leo Strauss’ ›Naturrecht und Geschichte‹. Ich lernte, dass die Idee des Fortschritts
     als
große Erzählung
betrachtet wurde, die französische Denker auseinandernahmen, um sie auch anders erzählen zu können. Seit die Welt eine ungeteilte,
     von verschiedenen Kulturen und Religionen geprägte ist, kehrt die Frage wieder, was denn die Grundlagen eines globalen Rechts
     sein könnten. Ich entdecke eine Gedächtnisschleife, die über meine persönliche Geschichte hinausgeht.
     
    Wie weggewischt war das alles noch bis vor Kurzem! Kein Gedanke daran. Womöglich hätte ich sogar Eva völlig vergessen – wenn
     ich Heumann nicht begegnet wäre. Vor zwei |24| Wochen. Auf der Bergmannstraße, wo wir uns beinahe über den Haufen gerannt hätten.
    Was für ein Schock! Ich erkannte ihn sofort, nur sein Name fiel mir nicht ein. Ich starrte ihn im ersten Moment an, weil er
     mir so gealtert schien, weil er so fremd darin aussah, weil ich nicht fassen konnte, dass er es war. Als ob er wie Alec Guinness
     auf der Leinwand ewig gleich hätte bleiben müssen! Mich durchzuckte der Gedanke, wie oft ich unbewusst gefürchtet hatte, einen
     alten Bekannten zu treffen, der unter die Räder gekommen ist. Ich weiß gar nicht, warum, denn Heumann sah für sein Alter gut
     aus, schlank, das graue Haar kurz geschnitten, die Gesichtszüge klar.
    Heumann nickte mir zu, und das war die größte Überraschung: Dass er
mich
erkannte. Dass er wusste, wer ich war. Ich sah es an seinen Augen. Ich hätte es nie geglaubt, denn damals, als wir uns kennenlernten,
     dachte ich immer, ich wäre für ihn eine unbedeutende Randfigur, einer von denen, die man sich nicht merkt. Es ist immerhin
     zwanzig Jahre her, dass Eva in einem lärmerfüllten Atelier zwischen riesigen Bildern und vielen Leuten zu mir sagte: Darf
     ich vorstellen, Franz Heumann, mein Professor.
     
    Zwanzig Jahre! Es geht mir gar nicht um das Älterwerden an sich, ich sehe jeden Tag mein Gesicht im Spiegel, ohne groß darüber
     nachzudenken. Nein, es war etwas anderes: Ich sah mich plötzlich einer Zeit meines Lebens gegenüber, an die ich all die Jahre
     keinerlei Anknüpfung gefunden hatte. Sie war stehen geblieben und verschwunden, meine eigene Lebenszeit; und diese Erkenntnis
     traf mich, als ich in Heumanns freundliche Augen mit den vielen Falten sah. Die Zeit von zwei gelebten Leben, schoss es mir
     durch den Kopf, wie etwas entsetzlich Endgültiges. Heumann muss Ende fünfzig sein, rechnete ich rasch durch; ich bin fünfundvierzig.
    Ich sah ihn an und begegnete mir selbst. Völlig unvorhergesehen traf ich auf einen Teil von mir, den ich offensichtlich
ad
|25|
acta
gelegt hatte; in einen Ordner abgeheftet, mit einem grünen Aktenschwanz versehen, in den Keller gepackt, eingestaubt. Das
     war es. Weggelegt und abgeschnitten. Ein tiefer, grässlicher Schmerz fuhr mir in die Glieder, rüttelte mich auf und – berauschte
     mich.
     
    Sollen wir einen Kaffee trinken? fragte Heumann.
    Fliehen oder bleiben, ich zögerte einen Augenblick zu lang, doch was hätte ich schon vorgehabt?
    Warum nicht? fragte ich zurück. Ich brannte
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