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Nachtjaeger

Nachtjaeger

Titel: Nachtjaeger
Autoren: J. T. Geissinger
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ein unwilliges Halbblut davon zu überzeugen, mit ihnen nach Sommerley zurückzukehren. Falls so etwas nötig sein sollte. Diese Gabe war auch der Grund gewesen, warum man sie im Rat aufgenommen hatte.
    Außerdem konnte sie verdammt anstrengend sein. Leander hatte mehrmals ihre melodramatischen Auftritte miterlebt, die sie stets dann hatte, wenn sie ihren übermäßigen Stolz auf irgendeine Weise verletzt sah. Sie war stachliger als so manches Stachelschwein.
    Der Plan, das Halbblut zu besuchen, wurde mit einer Geschwindigkeit umgesetzt, die schon seit Jahren nicht mehr typisch für den Rat war. Noch am selben Abend saß das Trio in einem Privatflugzeug auf dem Weg nach Los Angeles.
    Fünfzehn Stunden und einige Whiskey später stand Leander auf dem Balkon in der Präsidenten-Suite im Hotel Four Seasons in Beverly Hills und blickte über die Stadt. Die Sonne ging langsam unter und tauchte alles in tiefstes Indigoblau und Violett.
    Wie schon unzählige Male zuvor seit seiner Abreise aus Sommerley kehrten seine Gedanken erneut zu Jenna zurück.
    Ihr ganzes Leben lang war sie verfolgt worden, auch wenn sie das nicht gemerkt haben dürfte. Der Rat hatte das Opfer ihres Vaters akzeptiert und ihr die Freiheit geschenkt, sie aber nicht völlig aus den Augen gelassen. Es wäre undenkbar gewesen, sie vollkommen zu ignorieren.
    Ein Späher war beauftragt worden, sie heimlich zu beobachten und ihr überallhin zu folgen, um dem Rat immer wieder über sie berichten zu können. Doch in all den Jahren, in denen sie von einem Kind zu einer Frau heranwuchs, hatte Jenna keine äußeren Anzeichen einer Begabung gezeigt. Außer ihren Augen.
    In der Pubertät war nichts geschehen. Zu diesem Zeitpunkt zeigten andere Gestaltwandler gewöhnlich ihre Begabungen, mochte das nun Stärke, Wendigkeit oder die Geschwindigkeit sein, mit denen sie einen Baum hinaufkletterten oder über einen Zaun sprangen. Ihre gesteigerten Fähigkeiten ermöglichten es ihnen, das Rauschen der Luft über den Vogelflügeln im Himmel ebenso zu hören wie die Herzschläge der kleinen Tiere unter der Erde. Sie rochen über Kilometer hinweg Wasser und wussten, ob es sich um Süß- oder Salzwasser handelte, ob es ein See war oder ein Fluss. Jenna schien nichts davon zu können.
    Deshalb nahm der Rat mit der Zeit an, dass sie es auch niemals können würde.
    Nun wurden nur noch alle paar Jahre Späher geschickt, die nie etwas Ungewöhnliches berichteten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, wenn alle Halbblüter zum ersten Mal ihre Gestalt wandelten, ebenfalls verwandeln würde, war also wirklich sehr gering.
    Trotzdem. Es bestand eine kleine Chance …
    Leanders Herz schlug schneller, als eine warme Brise die schimmernden Vorhänge vor den offenen Terrassentüren ein wenig in Bewegung brachte. Es roch nach heißen Steinen und verwelkten Blüten. Die Terrasse aus rosafarbenem Marmor mit ihrer Balustrade und den herabfallenden scharlachroten Bougainvillen sowie dem Steinbrunnen in der Mitte lag ruhig vor ihm – eine Einladung an die Nacht.
    Er hob den Blick in den dunkler werdenden Himmel und spürte den Herzschlag in seinem Inneren.
    Der Ruf der Verwandlung.
    In der Nacht spürte er diesen Ruf am stärksten, auch wenn er, wie seine Artgenossen, jederzeit die Gestalt wandeln konnte. Leander besaß jedoch eine Gabe, die nur den mächtigsten Ikati vorbehalten war. Er konnte zu mehr als einem bloßen Tier werden – zu mehr als jenem tödlichen Raubtier, in das sich alle Angehörigen seiner Spezies verwandeln konnten.
    Er konnte zu Nebel werden und sich gestaltlos in Luft auflösen.
    Er zog seine Jacke, sein Hemd und seine feine Wollhose aus. Lautlos fielen die Kleidungsstücke auf den warmen Marmor unter seinen nackten Füßen. Er schloss die Augen und ließ das Gefühl in sich aufsteigen. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, während die Freude der Verwandlung immer größer wurde.
    Es gab nichts, das sich mit diesem letzten Moment kurz vor der Auflösung vergleichen ließ. Nichts auf der Welt fühlte sich so gut an. Es war wie ein Wasserfall aus Empfindungen, wie ein Beben, das sich zuerst in einen Stromschlag und dann in eine unglaubliche Leichtigkeit verwandelte, ehe sein Körper verschwand. Alles Menschliche war verschwunden, ebenso wie alle Sinne. Jetzt spürte er nur noch die seidige Berührung der Luft um sich herum. Er glitt hindurch und erhob sich wie ein feiner Dunst schimmernd in den Himmel. Nur sein Geist und sein Wille
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