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Nachtjaeger

Nachtjaeger

Titel: Nachtjaeger
Autoren: J. T. Geissinger
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Sommerley. Hier konnte er sich vor der Welt verstecken und in Ruhe nachdenken.
    Natürlich nur, wenn nicht gerade der Rat zusammenkam.
    »Ein Halbblut, dessen Vater wegen Verrats hingerichtet wurde«, fügte Leander hinzu. Frustriert schüttelte er den Kopf. »Sie ist doch kaum eines zweiten Blickes wert. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie irgendeine Gabe besitzt. Sie hat keines der Anzeichen …«
    »Sie hat die Augen«, unterbrach ihn eine ruhige Stimme zu seiner Rechten. Es war die Stimme von Edward Viscount Weymouth. Er hatte es sich auf einem Dupioni-Sessel aus beiger und elfenbeinfarbener Seide bequem gemacht und seine Hände über der Weste gefaltet. Seine Beine hatte er ausgestreckt, und auf der Spitze seiner markanten Nase saß eine runde Nickelbrille. »Das wurde uns von mehr als einem Späher bestätigt«, fügte er hinzu.
    Leander schürzte die Lippen und überlegte. Viscount Weymouth galt als zuverlässig. Er führte über die Vorfahren jedes Mitglieds der Kolonie genau Buch und kannte ihre Geheimnisse und Geschichten – bis in jene glorreichen Tage in den Regenwäldern Afrikas zurück.
    Viscount Weymouth war der Hüter der Geschlechter, wie das schon sein Vater, sein Großvater und alle anderen Männer seiner Linie vor ihm gewesen waren.
    Es war eine wichtige Aufgabe in der Kolonie, die als höchst angesehen galt. Denn für die Ikati waren die Vorfahren fast genauso wichtig wie sonst nur zwei andere Dinge: Geheimhaltung und Loyalität.
    »Soweit ich weiß, hat es bereits andere Halbblüter in unserer Geschichte gegeben, die ebenfalls die Augen hatten. Nur wenige von ihnen zeigten weitere Anzeichen. Noch weniger waren fähig, sich zu verwandeln«, entgegnete Leander.
    Der Viscount sah ihn für einen langen Moment schweigend und regungslos an. Dann brummte er etwas, was die anderen Ratsmitglieder dazu veranlasste, unruhig hin und her zu rutschen und ihre Zustimmung zu murmeln.
    »Du hast recht. Aber keiner der anderen Halbblüter stammte von ihm ab.«
    »Leander.«
    Sein Bruder sprach nun Leander an, und der versammelte Rat wandte sich ihm zu. Christian saß an zweiter Stelle um den rechteckigen Mahagonitisch zur Linken Leanders. Sein vergoldeter Buchenholzsessel mit dem geschnitzten Rückenteil war etwas weniger üppig ausgestattet als der seines Bruders.
    Christian wirkte entspannt. Auf seinem attraktiven Gesicht zeigte sich ein lässiges Lächeln, seine Haare fielen in seidigen Locken über seine Schulter. Er war körperlich weniger imposant als sein Bruder, doch genauso intelligent, grünäugig und geschmeidig. Wie alle Ikati war auch er groß, anmutig und von dunklem Teint.
    Doch ebenso wie die anderen, schätzte er Leanders Reaktion genau ab und überlegte sich jedes Wort, das er sprach. Ein falscher Satz konnte unangenehme Konsequenzen haben.
    »Vielleicht wäre es nicht unklug, sich dieses Halbblut einmal genauer anzusehen«, begann er langsam. »Und wenn es nur dazu dient, sicherzustellen, dass es keine Bedrohung darstellt. Unter normalen Umständen hätte man sich bereits nach ihrer Geburt um sie gekümmert. Allein die Tatsache, dass diese Frau noch in Freiheit lebt, bringt uns doch alle in Gefahr.«
    Leanders Erwiderung bestand in einer hochgezogenen Augenbraue und zusammengekniffenen Lippen. Ermutigt von Christians Worten lehnte sich nun auch Robert Barrington über den Tisch und sah Leander aus schmalen, grünen Augen an. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht, das an einen Löwen erinnerte. »Ich stimme Christian zu. Falls das Mädchen ihre Gestalt das erste Mal außerhalb der Kolonie wandelt, möglicherweise in Gegenwart von Menschen, könnte das katastrophale Folgen haben.«
    Ein weiterer Mann meldete sich zu Wort. Er wirkte fast streitlustig. Grayson Sutherland. Frisch verheiratet und stets selbstbewusst. Als junger Mann hatte er mit Leander um die Aufmerksamkeit einer besonders begehrten Frau des Stammes gebuhlt, einer Schönheit mit rabenschwarzen Haaren und Lippen wie Rosenknospen, die für ihre geschickten Hände berühmt war. Sutherland hatte damals verloren.
    »Sie haben recht, Leander. Diese kleine Streunerin könnte uns allen schaden. Man sollte sie hierherbringen, damit sie sich dem Rat und ihrem Schicksal stellt.«
    Weitere Männer um den Tisch murmelten leise ihre Zustimmung. Alle von ihnen waren privilegiert, alle begabt, und jeder von ihnen betrat mit seiner Zustimmung gefährliches Terrain.
    Leanders Gesicht verdüsterte sich. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen
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