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Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz

Titel: Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
Autoren: Tanja Heitmann
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versuchte herauszufinden, mit
was für einem Gesicht er eigentlich gerechnet hatte. Einige der Männergesichter, die seinen Weg gerade erst gekreuzt hatten, tauchten vor seinem geistigen Auge auf - lauter Gesichter, die anderen gehörten, genau wie das im Spiegel, das ihn ungeduldig ansah.
    Es dauerte eine Weile, bis Adam sich eingestand, dass er keine Vorstellung davon hatte, wie er eigentlich aussehen sollte. Aber es sollte etwas sein, das zu seiner Selbstwahrnehmung passte, und dieser viel zu junge Mann mit den klassischen Zügen konnte das unmöglich sein. Zu edel, geradezu schön war dieses Gesicht, mit genau dem richtigen Bruch in der Perfektion, dass es nicht einer Maske glich. Der Mund einen Hauch zu sinnlich - zumindest aus Sicht eines Mannes … eine griechische Nase … Am meisten jedoch irritierte ihn der Blick aus den eindringlichen Katzenaugen, deren Grün sogar im trüben Fensterglas aufleuchtete.
    Ich habe eine gute Wahl getroffen, nicht wahr? Du bist ein wahres Schmuckstück, sehr schön, wortwörtlich, brachte sich die Stimme voll Besitzerstolz ein.
    Sofort lag Adam eine Erwiderung auf der Zunge, obwohl er kaum verstand, was die Stimme tatsächlich meinte. Aber trotz seiner Aufgebrachtheit war ihm klar, dass er mit einer an sein Spiegelbild gerichteten Antwort unnötig Aufmerksamkeit erregt hätte. Und davon erzielte er auch ohne hitzig geführte Selbstgespräche schon genug. Der Ladenbesitzer hatte sich auf der Innenseite des Schaufensters aufgebaut und machte keinen sonderlich glücklichen Eindruck. Nicht mehr lange, dann würde er durch die Tür treten und ihn auffordern, zu gehen. So, wie Adam aussah, verscheuchte er zweifelsohne die Kundschaft.
    Sein Äußeres als »derangiert« zu bezeichnen, wie der ältere Herr es getan hatte, war milde ausgedrückt. Im Gegensatz zu den meisten Männern auf der Straße trug Adam nämlich weder einen Hut noch einen Zylinder, der eigentlich zu seinem eleganten
Anzug gepasst hätte. Stattdessen stand sein dunkelblondes Haar zerzaust in alle Himmelsrichtungen ab. Sein Mantel war an der Schulter eingerissen, so dass die Füllung hervorquoll, seine Weste stand offen, genau wie sein zerknittertes und mit getrockneten Blutspuren übersätes Hemd.Von einem Plastron war nichts zu sehen, dafür jedoch seine ebenfalls mit dunklen Schlieren überzogene Brust. So viel Blut - und nichts davon gehörte ihm, wie seine Haut bewies: Nirgends war eine Schnittwunde zu entdecken.
    Hastig machte Adam sich daran, alles, so gut es ging, in Ordnung zu bringen, wobei ihm die fehlenden Knöpfe einige Probleme bereiteten. Dann wandte er sich von dem Spiegelbild ab und ging mit gesenktem Kopf davon.
     
    Von einer plötzlichen Erschöpfung heimgesucht, warf Adam die zerknüllte Zeitung aufs Pflaster und stieß sich von der Häuserwand ab. Da währte seine Vergangenheit erst einen Tag und machte ihm schon derartig zu schaffen.Vielleicht war Vergessen doch nicht das Schlimmste, das einem passieren konnte, dachte er zynisch.
    Mit der einbrechenden Dämmerung ließ sich immer häufiger beobachten, wie die Leute ihre Mantelkragen aufstellten. Jedermann beeilte sich, von der Straße zu kommen, um in einem der Restaurants einzukehren oder zu Hause die Füße hochzulegen. Ihn jedoch berührte die aufziehende Kälte nicht, zu seiner Verwunderung wurden nicht einmal seine Hände klamm, wobei doch alle anderen Handschuhe zückten oder ihre Manteltaschen ausbeulten. Das Gefühl, sich außerhalb aller Regeln zu bewegen, verstärkte sich. Und noch eine andere Beobachtung setzte Adam zu: Immer wieder hatte er die Tafeln vor den unzähligen Bistros und Restaurants überflogen und stets damit gerechnet, dass sein Magen Hunger melden würde. Aber nichts dergleichen war geschehen.

    Wenn ihm schon nicht kalt wurde und er auch keinen Hunger verspürte, so musste er doch wenigstens müde werden, verdammt! Aber er fühlte sich bloß ausgebrannt, sein Geist war erschöpft - mehr nicht. Während sein Körper anscheinend endlos weiterwandern konnte, fühlte er sich innerlich, als hätte er seit hundert Jahren nicht mehr geschlafen. Ganz gleich, wie die Dinge standen - er würde sich bald ein Quartier für die Nacht suchen müssen. Dann würde er sich unter den Decken verkriechen und sich mit ein paar ernsthaften Fragen auseinandersetzen. Aber erst nach einem ausdauernden Schlaf, das nahm er sich fest vor. Einige Stunden lang weder denken noch fühlen - das brauchte er.
    Während er die von Gaslampen beleuchteten
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