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Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz

Titel: Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
Autoren: Tanja Heitmann
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in seiner Verbindlichkeit zu mindern. »Nein, dir gehöre ich nicht.«

TEIL I
    Stadt der Liebe

1
    Fremde Haut
    Die aufkommende Kühle kündigte den Abend an. Es lag noch ein Hauch von Winter über Paris. Der Frühling war zwar auf dem Vormarsch, wie die Triebe der Alleebäume bewiesen, aber die Nächte waren nichtsdestotrotz kalt.
    Kein Wunder, schließlich ist es erst Mitte März, sagte Adam sich und schlug eine Ausgabe von Le Parisien auf, die jemand auf einer Parkbank zurückgelassen hatte. Dabei interessierte ihn vor allem eine Information, auf die vermutlich kaum ein anderer Leser geachtet hätte: das Datum. Mehr noch als der Wochentag fesselte ihn das Jahr, denn Adam hatte nicht die geringste Ahnung, in welchem Jahrzehnt er sich befand.
    Laut der Zeitung war es das Jahr 1889 - für ihn war es nur eine Zahl.
    Seitdem er am Morgen in dieser Gasse zu sich gekommen war, war er wie ein Gejagter durch die Straßen gelaufen. Erst mit der einbrechenden Dämmerung hatte er begonnen, sich Gedanken um seine Umgebung zu machen. Obwohl ihm Häuser und Plätze vertraut vorkamen, hätte er keineswegs sagen können, wo er sich befand. Er verstand zwar die Verwünschungen, die sich die Straßenjungen zuwarfen, genau wie ihm Kleidung und Umgangsformen bekannt waren. Trotz alledem hatte er nicht das Gefühl, dass irgendetwas davon mit ihm zu tun hatte. Als wäre er nur ein Zuschauer, der versehentlich auf die Bühne und zwischen die Darsteller geraten war.

    Adam blieb gegen eine Hauswand gelehnt stehen und gab vor, sich in die Zeitung zu vertiefen. Dabei überflog er lediglich die Schlagzeilen, unter deren Themen er sich vage etwas vorstellen konnte. Politik,Wirtschaft … Er wusste, worum es ging, ähnlich einem Reisenden, der bei einem Zwischenstopp eine Zeitung kauft und sich sagt »ja, ja, die Franzosen und dieser Georges Boulanger. Das kann doch nicht gutgehen.« Dass es unweigerlich dunkel zu werden drohte, interessierte Adam dann jedoch mehr. Denn er wusste weder, wer er war, noch, wo er die Nacht verbringen sollte. Der ganze Tag war nicht mehr als ein böser Traum gewesen, und es sah nicht danach aus, als ob er bald endete.
    Mit einem Schaudern dachte Adam daran, wie er im Morgenrot aus der Gasse gestolpert war, das Lachen dieser bösartigen Stimme noch in den Ohren, sämtliche Sinne betäubt von dem Blutgeruch eines fremden Mannes. Augenblicklich war ihm, als wäre er wieder dort, so lebendig stand ihm die Erinnerung vor Augen.
    Der Geruch des Blutes … die fordernde Stimme in seinem Kopf … beseelt von dem Entschluss, seinem Jagdinstinkt auf keinen Fall nachzugeben, ganz gleich, wie drängend er sein mochte. Niemand anders würde für ihn entscheiden, verflucht noch einmal! Er würde exakt den Weg einschlagen, der von der Fährte des Mannes, dessen Blut an ihm haftete, wegführte.
    Kaum hatte er der Gasse den Rücken zugedreht, setzte jener schreckliche Schmerz erneut ein, als werde er für seine widerspenstige Entscheidung bestraft. Trotzdem hielt er nicht inne, sondern taumelte voran, immer weiter, die ihn anstarrenden Menschen ignorierend.
    Erst als sein Körper leidlich zur Ruhe kam, blieb er stehen und fand sich auf einem Platz wieder, der eigentlich eher eine breite Straße war. Die umstehenden Häuser waren vier, manchmal sogar fünf Stockwerke hoch. Jede Stelle freien Mauerwerks
war mit Schriftzügen bemalt, die auf die Läden verwiesen. »Vins & Liqueurs« las er im dunstigen Morgenlicht, »Pâtisserie« und noch mehr »Vin«. Während er die kunstvollen Schriftzüge und Plakate betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er selbst Wein niemals »Vin« genannt hätte.Welche andere Sprache er bevorzugt hätte, welche vielleicht sogar seine Muttersprache war, fiel ihm jedoch nicht ein. In was für einer Sprache hatte eigentlich diese aufdringliche Stimme zu ihm gesprochen? Kein Französisch, wenn er sich richtig erinnerte.
    Über dieses Geheimnis nachsinnend, schritt er aus, wurde aber sogleich am Kragen gepackt und zurückgerissen. Nicht eine Armlänge von ihm entfernt trabte ein schwarzer Kaltblüter vorbei, der ein schwer beladenes Gespann hinter sich herzog.
    »Bist du selbst zu dieser frühen Stunde noch nicht ausgenüchtert, du Säufer? Oder schon wieder betrunken?«, brüllte der rotwangige Kutscher ihn an. In seinem Mundwinkel hing eine Pfeife, die aufgeregt auf und ab hüpfte. Dann war er schon an ihm vorbeigefahren.
    »Sie sollten vorsichtiger sein, Monsieur. Die Rue Mouffetard ist gewiss nicht der
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