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Nachtgieger

Nachtgieger

Titel: Nachtgieger
Autoren: Ilse Maria Dries
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Geburtstagskinds.
    Martin vermutete, dass er sich mit seiner Art, mit den Kindern umzugehen, die Verachtung der meisten Pädagogen zuziehen würde. Er hatte es längst aufgegeben, Erziehung als ein planvolles Handeln zu betrachten; für ihn bestand sie mehr in einem spontanen Reagieren auf konkrete Krisensituationen. Die Erziehungsbücher, die er stapelweise gelesen hatte, als er mit Martina und den damals eineinhalbjährigen Zwillingen zusammengezogen war, hatte er nach kurzer Zeit in den Papiercontainer geworfen und es auf seine eigene Weise versucht. Martina meinte zwar, dass er die Kinder verwöhne, aber da sie, seit die Mädchen in die Schule gingen, wieder voll arbeitete und nicht sehr oft zu Hause war, hatte sie nicht viel zu sagen.
     
    Während die Mädchen Spaghetti aßen und dann ihre Hausaufgaben fertigmachten, druckte Martin den Katalog des Nachlasses aus, den er Anfang der Woche in Deggendorf erstellt hatte. Der alte Antiquar Fessler, für den er ab und zu Bibliotheken aus Nachlässen katalogisierte und bewertete, wollte ihn heute noch sehen. Solche Aufträge gehörten zu den lukrativeren in Martins Berufsleben, aber auch zu den anstrengenderen. Drei Tage lang war er täglich, nachdem Maja und Mara in der Schule waren, mit Fesslers altem „Dienst-Passat“ nach Niederbayern gefahren, hatte im Hinterzimmer eines örtlichen Buchhändlers, der den Nachlass übernommen hatte, Titel für Titel der etwas mehr als 100 Bände in sein Powerbook eingegeben, hatte Antiquariatskataloge gewälzt, Internetangebote durchgegoogelt und den Wert der Bücher abgeschätzt, um dann pünktlich um 16 Uhr wieder in München zu sein und die Kinder vom Hort abzuholen.
     
    Martin hatte in Deggendorf auch wieder etwas gefunden, das nicht auf Fesslers Liste kam. So war es fast immer, wenn er einen Nachlass für den Antiquar zu katalogisieren und zu schätzen hatte: Immer gab es ein, zwei Stücke, von denen er überzeugt war, dass der Alte sie nicht gebrauchen oder zumindest nicht richtig würdigen konnte, und denen er Asyl in seiner eigenen Bibliothek gewährte. Diesmal war es ein noch nicht aufgebundenes, nur aus gehefteten Bögen bestehendes Exemplar von Tiecks „Der junge Tischlermeister“. Martin war sicher, dass das Buch im hintersten Winkel von Fesslers Laden verstauben würde: Da ihm ein schöner Rücken fehlte, es nur wie ein Haufen Makulatur aussah, hatte es kaum Chancen, das Interesse der Kundschaft zu erregen, die zunehmend aus solchen „Bibliophilen“ bestand, die Bücher wie Briefmarken sammelten, sich für schöne alte Bände und Erstausgaben interessierten, denen aber die Texte in diesen Büchern oft herzlich gleichgültig waren. Martin hatte daher auch nicht den Anflug eines schlechten Gewissens, wenn er Fessler und seiner Kundschaft hin und wieder einen interessanten Text entzog: Von ihm würde er wenigstens gelesen werden. Natürlich achtete er auch darauf, das Risiko des Entdecktwerdens zu minimieren; der Deggendorfer Buchhändler hatte die Nachlassbibliothek auf puren Verdacht hin – und nachdem er einige der wertvollsten Stücke gesehen hatte – gegen einen sehr geringen Pauschalpreis, wie Martin vermutete, gekauft. Die meisten Kisten waren noch gar nicht ausgepackt gewesen. Neben dem Tieck hatte Martin auch noch ein kurios gebundenes Buch gefunden, das er gestern Andrea gebracht hatte. Sein Freund hatte vor dem Studium eine Buchbinderlehre gemacht und interessierte sich deshalb für Raritäten der Buchbindekunst. Martin wollte ohnehin mit Andrea darüber sprechen, denn er glaubte sich zu erinnern, dass er vor ein paar Wochen schon einmal ein ganz ähnliches Buch bei einer Bibliotheksauflösung gefunden und seinem Freund mitgebracht hatte.
     
    Um 14 Uhr hatte er die Zwillinge bei ihrer Party abgeliefert und höflich, aber bestimmt die Einladung abgelehnt, mit der Runde fröhlicher Mütter, die dort um den Küchentisch saß, ein Glas Prosecco zu trinken. Einmal, bei einer ähnlichen Gelegenheit, hatte er den Fehler gemacht, die Einladung anzunehmen. Eine Stunde lang hatte er sich so exotisch gefühlt wie ein Chinese im Bayerischen Wald. Die fröhlichen Mütter, die ihn in die Kategorie Hausmann einstuften, weil sie immer nur ihn und niemals Martina die Kinder zur Schule und zu den Geburtstagsfesten bringen sahen, hatten damals einerseits fasziniert nach den Einzelheiten seines hausmännlichen Lebens gefragt und andererseits herauszubekommen versucht, ob er trotz des Kinderhütens noch ein richtiger Mann
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