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Nachtflug

Nachtflug

Titel: Nachtflug
Autoren: Antoine de Saint-Exupéry
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zurückkam, spürte er plötzlich wieder den heftigen Schmerz in der rechten Seite, der ihn schon seit einigen Wochen quälte.
    ›Das geht nicht…‹
    Er lehnte sich einen Augenblick an die Wand: 
    ›Lächerlich.‹
    Dann gelang es ihm, zu seinem Sessel zu kommen. Er kam sich, wie jetzt öfters schon, wie ein gelähmter alter Löwe vor, und eine große Traurigkeit befiel ihn.
    ›So viel Mühsal, und das das Ende! Ich bin jetzt fünfzig Jahre; fünfzig Jahre lang hab’ ich mein Leben ausgefüllt, hab’ an mir gearbeitet, habe gekämpft, habe den Gang der Entwicklung beeinflußt, und jetzt das … jetzt beschäftigt mich das, füllt mich das aus, macht mir alles andere nichtig . Das ist doch lächerlich.‹
    Er wartete eine Weile, trocknete sich den Schweiß ab und machte sich, als er sich wieder leichter fühlte, an die Arbeit. Er sah langsam die Schriftstücke durch.
    »Wir haben in Buenos Aires beim Abmontieren des Motors 301 konstatiert … Der Schuldige wird streng bestraft werden.« 
    Er unterzeichnete.
    »Da die Station Florianopolis die Anweisungen nicht befolgt hat .« 
    Er unterzeichnete.
    »Der Flugplatzleiter Richard wird disziplinarisch versetzt, weil er .« 
    Er unterzeichnete.
    Der Schmerz in der Seite, der sich zwar gelindert hatte, aber immer noch da war - etwas ganz Ungewohntes, das dem Leben ein ganz verändertes Ansehen gab -, lenkte unwillkürlich seine Gedanken wieder auf sein eigenes Ich; bittere Gedanken.
    ›Bin ich gerecht oder ungerecht? Ich weiß es nicht. Wenn ich strafe, gibt es weniger Pannen. Der eigentlich Schuldige ist nicht der einzelne, sondern ein dunkles Etwas, eine dunkle Macht, die man nicht triffi, wenn man nicht alle triffi. Wenn ich ganz gerecht wäre, wäre jeder Nachtflug jedesmal eine Sache auf Leben und Tod.‹
    Eine gewisse Müdigkeit überkam ihn angesichts dieses Weges, der so unbarmherzig vorgezeichnet war. Mitleid ist gut, dachte er. Dabei blätterte er, in Gedanken versunken, ein Schriftstück nach dem andern um. 
    »… was Roblet anbelangt, so gehört er von heute ab nicht mehr zu unserem Personal.« 
    Der alte Biedermann tauchte wieder vor ihm auf und sein Gespräch mit ihm von heute abend:
    »Ein Exempel, mein Lieber, ein Exempel.« 
    »Aber Herr … aber Herr Direktor … Einmal, ein einziges Mal, denken Sie doch! Und ich hab’ mein ganzes Leben lang gearbeitet.« 
    »Es muß ein Exempel statuiert werden.« 
    »Aber Herr Direktor! … Schauen Sie, Herr Direktor, hier …!« Dann die abgegriffene Brieftasche und der alte Zeitungsausschnitt, auf dem Roblet als junger Mann zu sehen war, neben einem Flugzeug postiert. 
    Riviere sah die alten Hände zittern, wie sie das kindliche Ruhmesblatt hinhielten. »Das ist vom Jahre 1910, Herr Direktor … das bin ich hier, da hab’ ich die Montage gemacht hier von dem ersten Flugzeug in Argentinien! Seit 1910 bei der Fliegerei, Herr Direktor … das sind zwanzig Jahre! Wie können Sie da sagen … Und die Grünschnäbel, Herr Direktor, wie die lachen werden in der Werkstatt! … Ach, die werden lachen!«
    »Das ist mir gleichgültig.«
    »Und meine Kinder, Herr Direktor, ich habe Kinder!«
    »Ich habe Ihnen gesagt: ich biete Ihnen eine Stelle als Hilfsarbeiter an.«
    »Meine Würde, Herr Direktor, meine Würde!
    Denken Sie doch, Herr Direktor, zwanzig Jahre bei der Fliegerei, ein alter Handwerker wie ich .«
    »Als Hilfsarbeiter.«
    »Das lehn’ ich ab, Herr Direktor, das lehn’ ich ab!«
    Und die alten Hände zitterten, und Riviere wandte die Augen weg von dieser verrunzelten, dicken, rührenden Haut. 
    »Als Hilfsarbeiter.«
    »Nein, Herr Direktor, nein … ich will Ihnen noch sagen .« 
    »Sie können gehen.«
    Riviere dachte: ›Das gilt nicht ihm, daß ich ihn so brutal entlasse, sondern dem Feindlichen, Schädlichen, für das er nicht verantwortlich ist, aber das sich durch ihn eingeschlichen hat.‹ ›Ich will Ihnen noch sagen …‹ Was hatte er noch sagen wollen, der arme Alte? Daß man ihm die Freuden seines Alters nehme? Daß er den Klang der Werkzeuge auf dem Stahl der Flugzeuge liebe, und daß man sein Leben einer großen Poesie beraube? Ja, und … daß man doch leben müsse?
    ›Ich bin sehr müde‹, dachte Riviere. Das Fieber stieg in ihm, wohlig erschlaffend. Er tippte mit dem Finger auf das Blatt und dachte: ›Ich hatte das Gesicht von dem alten Kameraden sehr gern …‹
    Er sah wieder diese Hände vor sich. Er malte sich die kleine, dankbare Bewegung aus, die sie machen würden,
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