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Nacht über Juniper

Titel: Nacht über Juniper
Autoren: Glen Cook
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Plattformen waren in Sech- serstapeln angeordnet. Wenn der Raum voll war, verlangte Shed zwei Gersh dafür, daß man im Stehen gegen ein durch die Mitte des Raumes gespanntes Seil gelehnt schlafen durfte. Shed faßte den Alten an. Seine Haut war kalt. Er war schon seit Stunden hinüber. »Wer ist das?« fragte die alte June.
»Ich weiß es nicht.« Shed durchwühlte seine zerlumpte Kleidung. Er fand vier Gersh und ei- nen Eisenring. »Verdammt!« Das konnte er nicht an sich nehmen. Die Wächter würden arg- wöhnisch werden, wenn sie nichts fanden. »Wir sind vom Pech verfolgt. Das ist in diesem Jahr schon unsere vierte Leiche.«
»Das liegt an den Gästen, Junge. Sie stehen schon mit einem Fuß in den Katakomben.« Shed spuckte aus. »Ich schicke besser nach den Wächtern.« Eine Stimme sagte: »Wenn er schon so lange gewartet hat, dann laß ihn doch noch eine Weile länger warten.«
Shed wirbelte herum. Raven und Darling standen hinter seiner Mutter. »Was?« »Vielleicht ist er die Antwort auf deine Probleme«, sagte Raven. Und sofort legte Darling mit Gebärdenzeichen los, die so rasch kamen, daß Shed kaum eines von zwanzig verstand. Offenbar sagte sie Raven, daß er irgend etwas nicht tun sollte. Raven achtete nicht auf sie. »Shed!« schnappte die alte June. Ihre Stimme erstickte fast vor warnender Ermahnung. »Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich kümmere mich schon darum. Mach mit deiner Arbeit weiter.« June war blind, aber sofern es ihre Gesundheit zuließ, schüttete sie das Schmutzwas- ser fort und kümmerte sich um das, was man vielleicht den Zimmerservice nennen konnte – und was im wesentlichen auf das Abstauben der Betten zwischen den Gästen hinauslief, um den Flöhen und den Läusen den Garaus zu machen. Wenn sie wieder einmal bettlägerig war, zog Shed seinen Vetter Wally heran, genauso ein Tunichtgut wie Asa, aber mit Frau und Kin- dern. Shed beschäftigte ihn aus Mitleid für die Frau. Er ging nach unten. Raven folgte ihm und stritt sich weiter mit Darling. Shed fragte sich kurz, ob Raven sie wohl bumste. Es wäre schon eine verdammte Verschwendung von schö-
    nem Frauenfleisch gewesen, wenn niemand es getan hätte.
Wie konnte ein toter Mann mit vier Gersh in der Tasche ihn von Krage befreien? Antwort: Gar nicht. Nicht auf gesetzlichem Wege. Raven setzte sich auf seinen Stammplatz. Er streute eine Handvoll Kupferstücke aus. »Wein. Für dich auch einen Becher.«
Shed sammelte die Münzen ein und warf sie in seinen Kasten. Der Inhalt war bejammerns- wert. Er bekam nicht einmal seine Kosten herein. Selbst wenn sich seine Schulden bei Krage auf wundersame Weise auflösen würden, wäre er noch immer dem Untergang geweiht. Er stellte einen Becher vor Raven ab und setzte sich auf einen Hocker. Er fühlte sich alt und unendlich müde. »Was gibt es?«
»Der alte Mann. Wer war er? Wohin gehörte er?« Shed zuckte die Schultern. »Bloß jemand, der aus der Kälte raus wollte. Der Stiefel ist voll von solchen Kerlen.«
»Das stimmt.«
Shed erschauerte bei dem Klang von Ravens Stimme. »Schlägst du mir das vor, was ich ge- rade denke?«
»Was wäre das denn?«
»Ich weiß nicht. Wem nützt schon eine Leiche? Ich meine, selbst die Wächter stopfen sie nur in die Katakomben.«
»Einmal angenommen, es gäbe einen Käufer?« »Daran habe ich schon gedacht.«
»Und?«
»Was müßte ich tun?« Seine Stimme war kaum zu vernehmen. Ein scheußlicheres Verbre- chen konnte er sich nicht vorstellen. Selbst die niedersten Toten wurden höher in Ehren gehal- ten als die Lebenden. Eine Leiche war etwas Heiliges. Die Einfriedung war Junipers Epizen- trum.
»Nur sehr wenig. Bring die Leiche heute abend spät zur Hintertür. Schaffst du das?« Shed nickte schwach.
»Gut. Trinke deinen Wein aus.«
Shed stürzte ihn mit einem Schluck hinunter. Er schenkte sich einen weiteren Becher ein, putzte eifrig sein Geschirr. Es war ein böser Traum. Er würde vorübergehen.
    Die Leiche schien fast nichts zu wiegen, aber Shed hatte Schwierigkeiten, die Treppen herun- terzusteigen. Er hatte zuviel getrunken. Mit übertrieben vorsichtigen Schritten schob er sich
    durch den finsteren Hauptraum. Die Leute am Kamin nahmen im düsteren Schein der letzten
Glut ein dämonisches Aussehen an. Als Shed die Küche betrat, stieß ein Fuß des alten Man- nes einen Topf um. Er erstarrte. Nichts regte sich. Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Er rief sich immer wieder ins Gedächtnis, daß er das hier nur tat, damit seine Mutter nicht
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