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Nacht über Eden

Nacht über Eden

Titel: Nacht über Eden
Autoren: V.C. Andrews
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gewünscht hätte.
    Ich spürte, daß Lukes Blick auf mir lag, und wandte mich um. Sein Gesicht war bekümmert, so als könne er meine Gedanken lesen und wüßte, wie traurig ich manchmal war –
    trotz des Reichtums, der uns umgab. Von Zeit zu Zeit beneidete ich die Familien, die ärmer waren als wir, denn ihr Leben schien so viel einfacher als unseres… Auf ihrer Vergangenheit lastete kein Geheimnis; sie hatten keine Verwandten, derer sie sich schämen mußten, keine Halbbrüder, keine Halbonkel. Nicht daß ich irgend jemanden in der Familie hätte missen mögen; ich liebte sie alle. Selbst Tante Fanny liebte ich. Es war, als wären wir alle Opfer ein und desselben Fluchs, der auf unserem Geschlecht lastete.
    »Willst du weitermalen, Annie?« fragte Luke, und seine blauen Augen glänzten hoffnungsvoll.
    »Hast du es nicht satt?«
    »Nein. Und du?« fragte er.
    »Ich werde das Malen nie leid, vor allem nicht, wenn ich dich male«, erwiderte ich.
    2. KAPITEL

    GEBURTSTAGSGESCHENKE

    Lukes und mein achtzehnter Geburtstag war ein ganz besonderer Tag für uns beide. Meine Eltern kamen an diesem Morgen in mein Zimmer, um mich zu wecken. Daddy hatte mir ein goldenes Medaillon gekauft, das ein Bild von ihm und Mammi enthielt. Es hing an einer vierundzwanzigkarätigen Goldkette und glänzte mehr als jedes andere Schmuckstück, das ich je gesehen hatte. Er legte die Kette um meinen Hals, küßte und drückte mich so fest an sich, daß mir beinahe die Luft wegblieb. Dann sah er meinen überraschten Blick.
    »Ich kann nichts dafür«, flüsterte er. »Du bist jetzt eine junge Dame, und ich habe Angst, mein kleines Mädchen zu verlieren.«
    »O Daddy, ich werde immer dein kleines Mädchen sein«, rief ich.
    Er küßte mich wieder und hielt mich fest an sich gedrückt, bis Mammi sich räusperte.
    »Ich habe hier etwas, das Annie jetzt bekommen soll«, verkündete sie. Ich traute meinen Augen kaum, denn das, was sie in den Händen hielt, bedeutete ihr mehr als die kostbarsten Juwelen, die sie besaß. Und nun wollte sie es mir schenken!
    Ich dachte an die Tage zurück, als ich ein kleines Mädchen gewesen war und noch nicht zur Schule ging. Jeden Morgen saßen wir in ihrem Schlafzimmer an ihrem Toilettentisch, und sie bürstete mir das Haar. Und dabei hörten wir jene wunderschöne Melodie von Chopin… Ein verträumter Ausdruck trat in ihre Augen, und um ihre schönen Lippen spielte ein kleines Lächeln.
    Neben uns, auf einem niedrigen Tisch, stand ein kleines Häuschen, das ich Mammis Puppenhaus nannte, wenngleich es kein wirkliches Puppenhaus war. Es war eines der wenigen Tatterton-Spielzeuge, das wir bei uns zu Hause hatten: eine Spielzeughütte mit einem Irrgarten aus Hecken davor. Ich durfte es nicht berühren, aber manchmal hob sie das Dach hoch und ließ mich hineinsehen. Im Inneren befanden sich zwei Personen, ein Mann und ein junges Mädchen. Der Mann lag auf dem Boden ausgestreckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sein Blick war auf das junge Mädchen gerichtet, das aufmerksam dem zu lauschen schien, was er sagte.
    »Was erzählt er ihr, Mammi?«
    »Er erzählt ihr eine Geschichte.«
    »Was für eine Geschichte, Mammi?«
    »Oh, eine Geschichte von einer wunderbaren Welt, in der sich die Menschen immer geborgen und behütet fühlen, eine Welt, in der es nur Freundlichkeit und Schönheit gibt.«
    »Wo ist diese Welt, Mammi?«
    »Eine Zeitlang war sie in dieser Hütte.«
    »Kann ich auch in diese Welt gehen, Mammi?«
    »O mein Liebling, das hoffe ich!«
    »Warst du einmal in dieser Welt, Mammi?«
    Sie sah mich an. Ihre leuchtenden Augen waren blauer als der Himmel, und das strahlende Lächeln, das auf ihren Lippen lag, ließ ihr Gesicht noch sanfter und schöner erscheinen. Sie sah nun selbst aus wie ein kleines Mädchen.
    »O ja, Annie, ich war dort – einmal.«
    »Und warum bist du weggegangen, Mammi?«
    »Warum?« Sie sah sich suchend um, als hoffte sie die Antwort auf einem Stück Papier zu finden, das sie irgendwo hatte liegen lassen. Dann wandte sie ihren Blick wieder mir zu, und in ihren Augen glitzerten Tränen. »Weil, Annie… weil es zu schön war, um es zu ertragen.«
    Natürlich hatte ich sie damals nicht verstanden, und ich wußte auch heute noch nicht, was sie damit gemeint hatte. Wie konnte etwas zu schön sein, um es zu ertragen?
    Aber ich dachte damals nicht weiter darüber nach. Ich wollte die kleinen Möbel und das Geschirr sehen. Alles war so vollkommen! Ich hatte alles anfassen wollen, aber
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