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Nacht über Eden

Nacht über Eden

Titel: Nacht über Eden
Autoren: V.C. Andrews
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sie.
    »Danke, Heaven«, antwortete Luke, während er sich verlegen das Haar aus der Stirn strich und so tat, als sei er in sein Buch vertieft. Doch ich wußte, wie sehr er sich über ihr Lob freute.
    Dann sah er plötzlich auf seine Uhr.
    »Oh, ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es ist. Ich werde jetzt besser nach Hause gehen.«
    »Ich dachte, du würdest heute abend mit uns essen«, protestierte ich, ehe er aufstehen konnte.
    »Aber sicher, du solltest zum Abendessen bleiben, Luke.«
    Meine Mutter sah zärtlich zu Drake. »Es ist Drakes letzter Abend, bevor er zurück ins College geht«, sagte sie. »Meinst du, daß Fanny etwas dagegen hat?«
    »Nein«, ein feines, leicht sarkastisches Lächeln spielte um Lukes Mund. »Sie kommt heute abend nicht nach Hause.«
    »Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte meine Mutter hastig.
    Wir alle wußten um Fannys Eskapaden mit jüngeren Männern und wie sehr Luke sich darüber grämte. »Ich werde ein Gedeck für dich auflegen lassen.«
    Einen langen Augenblick ruhte ihr Blick auf meiner Leinwand. Auch ich betrachtete das Bild und blickte sie dann scheu an, um zu sehen, ob auf ihrem Gesicht Anerkennung oder Kritik zu lesen war. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite, und ihr Blick war unverwandt in die Ferne gerichtet, als lausche sie einer Musik, die nur sie hörte…
    »Es ist noch nicht fertig«, sagte ich hastig, denn ich fürchtete, daß sie irgend etwas Kritisches sagen könnte. Obwohl Daddy und sie meine Malerei von Anfang an immer unterstützt hatten, fühlte ich mich immer noch unsicher. Daddy hatte so wunderbare Künstler in seiner Fabrik; sie gehörten zu den talentiertesten Menschen des Landes. Er wußte, was wahre Kunst war.
    »Warum malst du nicht ein Bild von den Willies, Annie?«
    Sie wandte sich um und zeigte auf die Berge. »Ich würde gerne etwas in dieser Art ins Eßzimmer hängen. Die Willies im Frühling mit ihren blühenden Bäumen und den singenden Vögeln! Deine Bilder sind so gut, wenn du dir beim Malen die Natur zum Vorbild nimmst.«
    »O Mammi, meine Arbeiten sind aber noch nicht gut genug, um aufgehängt zu werden«, sagte ich und schüttelte den Kopf.
    »Aber du hast Talent, Annie.« Ihre blauen Augen sahen liebevoll und ermutigend auf mich. »Es liegt dir im Blut«, flüsterte sie, als würde sie mir etwas Schlimmes anvertrauen.
    »Ich weiß, Großvater hat wunderschöne Hasen und andere Waldtiere geschnitzt.«
    »Ja.« Meine Mutter seufzte, und die Erinnerung ließ ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht gleiten. »Ich sehe ihn noch vor mir, wie er vor der Hütte saß und stundenlang schnitzte, wie er ein formloses Holzstück in ein Waldtier verwandelte, das von Leben erfüllt schien. Es ist so wunderbar, wenn man künstlerisch begabt ist, Annie!«
    »O Mammi, ich bin wirklich noch nicht gut genug«, meinte ich, »aber ich hoffe sehr, daß ich rasch Fortschritte machen werde.«
    »Natürlich bist du gut, und natürlich wünschst du dir auch nichts sehnlicher, als eine richtige Malerin zu sein – eben wegen… wegen deiner künstlerischen Veranlagung.« Sie hielt einen Augenblick inne, als hätte sie mir gerade ein großes Geheimnis offenbart. Dann lächelte sie und küßte mich auf die Wange.
    »Komm mit mir, Drake«, sagte sie, »ich möchte einige Sachen mit dir besprechen, ehe ich es vergesse und du wieder auf dem College bist.«
    Drake kam zuerst zu mir herüber und betrachtete mein Bild.
    »Ich habe vorhin nur Spaß gemacht, Annie. Es ist sehr gut«, sagte er fast flüsternd, damit ihn meine Mutter nicht hörte. »Ich verstehe deinen Wunsch, größere und aufregendere Orte als Winnerrow kennenzulernen. Irgendwann wirst du dieses Nest verlassen«, sagte er und wandte sich dabei halb zu Luke um.
    »Du wirst nicht immer nur in deiner Phantasie anderswo sein.«
    Mit diesen Worten ging er zu meiner Mutter hinüber. Sie schob ihren Arm unter seinen, und sie gingen auf den Vordereingang von Hasbrouck House zu. Eine Bemerkung von Drake ließ sie laut auflachen. Ich wußte, daß er einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnahm, weil er sie so sehr an ihren Vater erinnerte. Sie ging gerne Arm in Arm mit ihm durch die Straßen von Winnerrow.
    Manchmal sah ich, wie Lukes Blick sehnsüchtig auf ihnen ruhte. Dann verstand ich, wie sehr er sich eine richtige, intakte Familie wünschte. Dies war einer der Gründe, warum er so gerne zu uns herüberkam, auch wenn er nur still dasaß und uns beobachtete. Hier gab es einen Vater und eine Mutter, wie er sie sich
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