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Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)

Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Angélique Mundt
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Sie sagt: »Es ist unerträglich zu leben. Ich habe Angst, verrückt zu werden.«
    Die Patientin lebt mit ihrem Bruder in einem Asylheim. Das Asylantragsverfahren ist immer noch nicht entschieden. Ihre aufenthaltsrechtliche Lage ist demnach ungeklärt, und beide betonen ihre Angst vor einer Abschiebung.
    Tessa seufzte und blätterte weiter, warf einen Blick auf das nächste Formular. Der Oberarzt hatte viele Kreuze gemacht:
    Herabgesetzte Konzentration, Grübeln, Ängste, Trauma, Flashbacks, Dissoziation, pseudo-paranoide Symptome, Depression, Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Gewichtsverlust …
    Und so weiter und so weiter. Über den Bruder stand dort nichts mehr. Dann fiel Tessa eine kaum leserliche Randnotiz von Neumann ins Auge.
    Eventuell simuliert die Patientin, um sich einen Aufenthaltsstatus zu sichern?
    Tessa starrte ungläubig auf die gekritzelte Notiz. Sie explodierte. Dieser schleimige Widerling. Wie konnte er dem Mädchen unterstellen, zu simulieren?
    Tessa sprang auf, sie wollte Neumann sofort zur Rede stellen. Sie stieß sich schmerzhaft an der Tischkante und fegte dabei den kleinen Aktenberg vom Tisch. Es klopfte an der Tür. So ein Mist.
    »Einen Moment«, rief sie und begann hektisch die Akten einzusammeln. Immer mit der Ruhe, ermahnte sie sich selbst. Schön der Reihe nach. Erst atmen, dann die Patientin, dann der Widerling.
    »Frau Chavari, kommen Sie herein, bitte.« Tessa musste sich Mühe geben, dass man ihr den Abscheu über Neumann nicht anhörte.
    Die Patientin setzte sich wortlos auf die äußerste Kante des Sessels nahe der Tür und schaute zu Boden. Sie sah in ihren Jeans und dem dicken Strickpullover sehr jung und verletzlich aus. Ihr schwarzes Haar wurde im Nacken straff von einem Gummiband zusammengehalten. Die Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. Schicksalsergeben.
    Tessa nahm das Bild in sich auf. Sie überlegte, wie sie anfangen sollte. Inzwischen atmete sie wieder normal, aber sie wusste, dass sie viel zu angespannt war, um diesem Mädchen etwas vorzumachen.
    »Ich habe gerade die Notizen meines Kollegen über Sie gelesen. Haben Sie heute Nacht schlafen können?«
    Kiana schüttelte den Kopf.
    »Sie müssen sehr erschöpft sein«, sagte Tessa.
    Kiana schaute kurz hoch, als ob sie nicht glaubte, dass sich tatsächlich jemand für ihr Befinden interessierte.
    »Ja.«
    Mehr kam nicht. »Können Sie mir trotzdem ein bisschen von dem erzählen, was Ihnen passiert ist?« Tessa sprach bewusst leise und langsam, um ihr Zeit zu geben.
    »Bitte, können Sie mich duzen? Ich komme mir sonst so komisch vor«, wisperte sie.
    »Gerne. Kiana, ich möchte verstehen, wie es dir geht und was dir passiert ist.«
    »In mir ist nichts, was nicht mit der Vergangenheit verbunden wäre.«
    »Erzähl mir ein bisschen über deine Vergangenheit. Wo bist du aufgewachsen?«
    »In einem kleinen Dorf in der Nähe von Mazar-i-Sherif, im Norden von Afghanistan.« Sie hielt ihre Hände fest, als ob sie sich selbst daran hindern wollte, wegzulaufen.
    »Hast du außer deinem Bruder noch mehr Geschwister?«
    Sie nickte. »Ich hatte eine ältere Schwester. Ich war die Jüngste.«
    »Wie war es früher – als du Kind warst?«, fragte Tessa.
    »Mein Vater war Arzt. Er hat in Deutschland studiert und in Hamburg meine Mutter kennengelernt. Ich bin in Afghanistan eingeschult worden. Es war schön dort. Ich habe mit meinen Geschwistern gespielt und gelacht. Wir haben uns um die Tiere gekümmert. Meine Schwester war hübsch, jeder mochte sie. Dann kamen die Taliban, und alles änderte sich. Wir lachten kaum noch. Wir durften nicht mehr lachen. Ich verstand es nicht. Erst später. Dann verstand ich.«
    Das Mädchen sprach nahezu akzentfreies Deutsch. Tessa ließ die Worte auf sich wirken. Es schien, als sammelte sich Kiana für das, was sie erzählen wollte.
    »Was ist passiert?«
    »Ich war auf dem Weg nach Hause. Von der Schule. Wir durften nicht mehr in die Schule. Aber … manchmal ging ich trotzdem hin, um zu sehen, ob sie noch da war. Ich habe gern gelernt.« Ihre Stimme war kaum zu verstehen, so leise sprach sie.
    »Erzähl weiter«, bat Tessa.
    Kiana atmete tief ein. »Ich habe zuerst gar nicht verstanden, was passiert. Sie waren zu dritt. Taliban. Ich hatte solche Angst. Ich hätte nicht in den Jeep steigen dürfen. Ich dachte, ich muss sterben. Hinterher ließen sie mich einfach liegen.«
    Tessa beobachtete die Veränderung, die in der Patientin vorging. Die Hände zitterten ganz leicht, sie
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