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Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall

Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall

Titel: Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
Autoren: Felicitas Mayall
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welche sehen!»
    Angelo lachte leise, legte einen Arm um Lauras Schultern und führte sie in sein Schlafzimmer. Wie zwei Katzen rollten sie sich ineinander, zu müde, um sich zu lieben, zufrieden, einander zu spüren.
    Sie schliefen, bis die schweren Glockenschläge des Doms sie weckten. Da war es schon heller Tag, und Tauben gurrten vor den Fenstern. Laura zählte die Schläge. Elf. Hatte sie einen zuviel gehört? Es durfte noch nicht elf sein. Der einzige Tag, den sie für sich hatten, durfte noch nicht halb vorüber sein.
    Aber es war elf. Guerrini schlief, das Gesicht in den Kissen und leise schnarchend. Behutsam löste Laura sich von ihm, sie trug noch immer Jeans und Bluse, fühlte sich verschwitzt und klebrig. Auf Zehenspitzen verließ sie das kleine Schlafzimmer, schlich durch den Wohnraum auf die Dachterrasse, die sie letzte Nacht nicht entdeckt hatte. Es war ein klarer Tag, die Türme des Doms schienen zum Greifen nahe, rosa Oleander blühte in großen Kübeln. Tauben trippelten auf dem gegenüberliegenden Dach umher, Wäsche flatterte vor Balkonen, Putz blätterte. Von tief unten drangen Verkehrslärm zu ihr herauf und Gerüche aller Schattierungen. Laura lehnte sich an das breite steinerne Geländer und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen.
    Wenn es Sofia und Luca nicht gäbe, würde ich nie wieder von hier fortgehen, dachte sie. Es ist das Land meiner Mutter, und ich liebe Angelo Guerrini. Ich werde sterben, wenn ich von hier fort muss. Ich habe noch vierundzwanzig Stunden.

A ngelo Guerrini meinte zu sterben, als Laura hinter der silbern glänzenden Automatiktür verschwand, die etwas Endgültiges hatte. Menschen, die hinter solchen Türen verschwanden, kehrten meist so schnell nicht wieder. Sie flogen davon wie Vögel. Dabei hatte er mit Laura gerade noch Cappuccino vor der Loggia dei Lanzi getrunken und sie daran erinnert, wie das Pferd seine Äpfel vor ihren Füßen fallen ließ. Wie lange war das her? Fünf, sechs Tage? Er wusste es nicht, hatte sein Zeitgefühl verloren. Der letzte Tag und die letzte Nacht mit Laura waren so schnell verflogen wie ein Traum, von dem man nur Bruchstücke bewahren kann. Und doch, er hatte jeden Schritt auf den holprigen Pflastersteinen von Siena ganz bewusst erlebt. Jeder dieser Schritte hatte ihn dem Abschied entgegengeführt, manchmal hatte er sich bei ihren Spaziergängen heimlich umgedreht, den unsichtbaren zurückgelegten Schritten hinterhergeschaut – eine abschüssige Gasse hinunter, eine Treppe hinauf. Jede Umarmung hatte er in sich aufgesogen, als sei es die letzte in seinem Leben. Lag es am Alter?
    Noch nie war ihm so klar geworden, dass er an der Vergänglichkeit litt, oder lag es daran, dass er so lange nicht mehr wirklich gelebt hatte? Dass er die Tage verlebt und zerlebt hatte, routiniert in bestimmten Fähigkeiten, vor allem in der Fähigkeit, fortzuschieben, was ihm Schmerzen bereitete, was ihm fehlte?
    Guerrini verließ die Abflughalle und kehrte zu seinem Wagen zurück, versuchte vernünftig zu denken. Es gab Telefon, E-Mail und Briefpost. Noch drei Monate bis zum neuen Jahr. Sie würden es miteinander begrüßen – irgendwo. Laura hatte es versprochen. Doch all die Vernunft half nicht. Als er das Flugzeug aufsteigen sah, meinte er erneut zu sterben, und er saß zusammengesunken hinter dem Steuer seines Wagens, bis ein Polizist ans Fenster klopfte und um seinen Ausweis bat.
    «Sie können hier nicht stehen bleiben», belehrte ihn der junge Kollege. «Hier ist noch Sicherheitszone. Wegen möglicher Terroranschläge. Man kann ja nicht wissen, ob nicht einer eine Bombe in seinem Wagen hat!»
    «Jaja», murmelte Guerrini und hielt dem jungen Mann seinen Dienstausweis hin.
    «Verzeihung, Commissario … aber wir haben strenge Anweisungen …»
    «Natürlich!», sagte Guerrini und lächelte, als der Polizist vor ihm strammstand. «Stehen Sie bequem. Ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, was für ein verdammt militaristisches Land wir sind?» Er steckte seinen Ausweis zurück und fuhr los. Der junge Polizist starrte ihm mit offenem Mund nach.

A ls das Flugzeug beschleunigte, spürte Laura ganz deutlich, wie ihr Körper mit der Maschine aufstieg, doch ein wesentlicher Teil ihrer selbst fehlte. Sie kauerte sich in ihrem Sitz zusammen und starrte aus dem Fenster. Das Flugzeug schwebte in einer weiten Kurve über das Arnotal, hatte schon die ersten Berge des Apennins erreicht. Dunst verdeckte bald darauf das Land. Die Maschine durchbrach die Wolkendecke
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