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Nachricht von dir

Nachricht von dir

Titel: Nachricht von dir
Autoren: Guillaume Musso
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im Video gekettet worden war. Sie suchte das ganze Verlies ab und fand eine durchtrennte Nylonfessel, ein Stück Klebeband und das rosa-graue Kapuzensweatshirt, das dem jungen Mädchen gehörte. Sie kniete sich hin, um es aufzuheben und daran zu riechen: Es war schweißfeucht und noch nicht eiskalt. Bei den Temperaturen, die in diesem Gefängnis herrschten, musste Alice vor einer Viertelstunde noch hier gewesen sein!
    Zu spät! Sie war zu spät gekommen! Wegen dieses verdammten Schnees! Wegen ihres mangelnden Weitblicks! Wegen ihres zu langsam funktionierenden Gehirns! Wegen …
    Ihre Enttäuschung dauerte nur knappe zwei Sekunden, dann stand Madeline auf und lief, die Waffe in der Hand, den Weg durch die feuchten Gänge zurück, um das Lagerhaus zu verlassen, fest entschlossen, die Jagd fortzusetzen.


    Kapitel 38
    Little Odessa
    »Es ist schwer, einen anderen schützen zu wollen und es nicht zu können«, meinte Angel.
    »Du kannst Leute nicht schützen, Jungchen«, sagte Wally. »Alles, was du tun kannst, ist, sie zu lieben.«
    John Irving,
Gottes Werk und Teufels Beitrag
     
     
     
     
    Der weiße Kastenwagen kämpfte sich durch die Schneemassen auf der Surf Avenue, die Scheibenwischer hatten Mühe, die Frontscheibe freizuhalten.
    Juri saß am Steuer und war äußerst nervös. Vor einer Stunde hatte er überraschend in den Nachrichten von Blythe Blakes Tod erfahren. Zunächst hatte er befürchtet, die Polizei wäre ihm auf der Spur, dann aber hatte er beschlossen, Nutzen aus der neuen Situation zu ziehen. Fortan würde Alice ihm gehören. Das kleine Miststück hatte versucht, ihm zu entwischen, aber sie war zu schwach. Angesichts ihres Zustands durfte er keine Zeit verlieren, wenn er sie zu einem guten Preis »weiterverkaufen« wollte. Die Brüder Taschenko hatten prinzipiell ihr Einverständnis gegeben, sie zu übernehmen. Erpressung, Prostitution, Waffenhandel: Die beiden Ukrainer waren im organisierten Verbrechen überall mit dabei. Alice war jung, hübsch, aufregend und sicher noch Jungfrau. Zwar müsste man sie zunächst etwas aufpäppeln, aber dann würden die Zuhälter ein hübsches Sümmchen Geld kassieren, wenn sie die Kleine auf den Strich schickten.
    Langsam, und ohne auch nur ein Mal in dem dicken weißen Teppich stecken zu bleiben, setzte der Wagen seinen Weg fort. Auf dem Armaturenbrett befand sich eine Muttergottes mit dem Kind neben einem byzantinischen Rosenkranz, der bei jeder Erschütterung bebte.
    Juri atmete auf, als er die Brighton Avenue erreicht hatte, die unter der Hochbahn verlief, und deshalb gegen den Schneesturm geschützt war. Er stellte seinen Wagen vor einem Lebensmittelgeschäft ab. Bevor er ausstieg, warf er einen Blick auf seine Gefangene.
    Auf der Rückbank ausgestreckt, war Alice erneut im Fieberwahn. Mehrmals schon hatte sie um Wasser gefleht.
    »Sonst noch was?«, fragte er. »Irgendwas zu essen?«
    Sie nickte.
    »Ich möchte …«, begann sie.
     
     
    Madeline verließ die Lagerhalle. Vorbei an den fünf Hundekadavern, durchquerte sie eilig das Grundstück, um ihr Frühstück auf den Bürgersteig zu erbrechen. Ihr war furchtbar übel, ihr Gesicht war schweißüberströmt, und sie kochte vor Wut. Was sollte sie tun? Nicht aufgeben, sondern bis zum Ende kämpfen. Alices Entführer hatte nur eine Viertelstunde Vorsprung. Das war viel und doch nichts.
    Man sah kaum weiter als zehn Meter. Zwecklos, das Auto zu nehmen. Es war besser, ihre Bewegungsfreiheit zu behalten, vor allem, da sie sich hier nicht auskannte. Sie ging die Straße hinunter bis zum schneebedeckten Deich. Der Atlantik war entfesselt und aufgewühlt. Madeline schien sich nicht mehr in New York, sondern in Sibirien zu befinden.
    Ohne nachzudenken, lief sie über die Promenade mit ihren Holzplanken und den mit Graffiti besprühten Frittenbuden. Der boardwalk war verlassen bis auf vereinzelte Möwen, die in den Mülleimern nach Essbarem suchten.
    Sie war durchnässt. Bald wurde ihr bewusst, dass das, was sie für Schweiß gehalten hatte, in Wirklichkeit Blut war. Bei jedem Schritt hinterließ sie eine dünne rote Spur. Ihre Wade war ebenfalls verletzt, doch am meisten blutete ihr linker Arm. Mit ihrem Schal fertigte sie sich notdürftig eine Aderpresse an. Dann setzte sie ihren Weg fort.
     
     
    Die U -Bahn fuhr nicht weiter als bis zur vorletzten Station. Die Kälte lähmte alles. Der Schnee bedeckte die Stadt mit seinem schweren Umhang. Erst als Jonathan die Station verließ, hatte er mit seinem Smartphone
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