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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder
Autoren: Sabine Bode
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angefangen habe, mich damit zu beschäftigten. Seit ich erwachsen bin treibt mich die Frage um, wie es einem Kollektiv möglich war, so konsequent und erfolgreich zu schweigen. Bis Mitte der sechziger Jahre trug ich in mir das dumpfe, ungenaue Gefühl: Irgendetwas stimmt nicht mit den Erwachsenen, irgendetwas stimmt nicht mit diesem Land. Aber weil der Nebel so dicht war und ich nicht einmal schwache Konturen dessen erkennen konnte, was mich irritierte, dachte ich oft, mit mir selbst stimme etwas nicht.
    Lange Zeit starrte ich nur auf Auschwitz. Ich konnte mir nicht erklären, warum die Erwachsenen nicht genauso bestürzt und ratlos über die Millionen Ermordeten waren wie ich und andere meines Alters. Wir fragten uns, wie Menschen, die doch unsere Vorbilder sein sollten, so teilnahmslos auf die Verbrechen reagieren konnten. Wenn es stimmte, dass sie von der Hitlerdiktatur eingeschüchtert waren und aus Angst keinen Widerstand leisteten, warum zeigten sie ihren Kindern kein Mitgefühl für die Opfer? Warum erzählten sie so gut wie nie etwas von ihren Erlebnissen und Beobachtungen aus den Jahren, bevor ihre Nachbarn deportiert wurden? Sie alle wussten doch von der Entrechtung, der Entwürdigung und der Willkür, der die Juden seit 1933 ausgesetzt waren.
    Bei meinen Lesungen für Kriegskinder berichteten Angehörige der 30er Jahrgänge häufig von ungeheuerlichen Szenen. Als Kinder hatten sie gesehen, wie Zwangsarbeiter gedemütigt wurden, wie jüdische Nachbarn auf einen Lastwagen steigen mussten, wie Trupps von Kriegsgefangenen oder KZ-Häftlingen vorbeizogen – |292| und wie erbarmungslos sie behandelt wurden, wie verhungert sie aussahen. Die meisten Eltern hatten damals gesagt: »Guck da nicht hin«.
    Noch mal die Frage: Was hat den Nebel, der über der NS-Vergangenheit lag, so undurchdringlich dicht gemacht? Heute wird viel über Traumaopfer geredet, und gelegentlich wird das Schweigen der ersten Nachkriegsjahrzehnte damit erklärt, dass alle Deutschen traumatisiert waren und daher ihre Erlebnisse nicht in Worte fassen konnten. Doch das kann auf die gesamte Bevölkerung nicht zutreffen. Aber der anderen Seite wissen wir: Die Bezeichnung »Tätervolk«, die bis vor wenigen Jahren noch im Gebrauch war, trifft die Realität genauso wenig. Dieser Pauschalvorwurf war allerdings nicht aus der Luft gegriffen, sondern die grobe, eindimensionale Reaktion auf den Satz »Wir haben von nichts gewusst«, der in den sechziger Jahren überall zu hören war.

Ein Kollektiv, das sein schlechtes Gewissen verdrängte
    Um zu vermeiden, dass man bei den Tätern eingereiht wurde, hätte es des großen Schweigens nicht bedurft, da hätte man mehr Löcher zulassen können. Jeder wusste doch, was aus der NS-Zeit in seinen persönlichen Akten vermerkt war, und konnte darauf hoffen, eines Tages mit Hilfe der Akten die Verdächtigungen aus der Welt zu schaffen. Nur die wenigsten hatten persönlich einem Juden oder anderen Verfolgten etwas angetan, aber die meisten hatten Gewinn daraus gezogen, dass SA, SS und Gestapo es taten. Es hat lange, sehr lange gedauert, bis ich das begriff. Erst als ich meinen Blick von Auschwitz abwandte und ihn auf den ganz normalen Alltag des Dritten Reichs lenkte, wurde mir nach und nach klar, in welchem Ausmaß von der Entrechtung und Vernichtung der jüdischen Mitbürger profitiert wurde.
    Daher denke ich: Es war schlichtweg schlechtes Gewissen, dessen Verdrängung die Deutschen in die Lage versetzt hatte, flächendeckend |293| dicht zu halten. Diesem schlechten Gewissen lagen in den meisten Fällen nicht Untaten zu Grunde, sondern das, was sich vielleicht am besten mit dem altmodischen Begriff »Sünde« beschreiben lässt. »Führe uns nicht in Versuchung« heißt es im Vaterunser.
    Weil die Deutschen ihr Gefühl für Recht und Unrecht aufweichten, konnten sie den Verführungen der Nationalsozialisten nicht mehr standhalten und wurden auf diese Weise ihre Komplizen. In Götz Alys Buch »Der Volksstaat« und in Michael Verhoevens Dokumentarfilm »Menschliches Versagen« wurden dazu überzeugende Fakten gesammelt. Man erfährt von den vielfältigsten Möglichkeiten des Profitierens, und wie einig sich die Bevölkerung und die Behörden nach dem Krieg waren, Wissen und Akten unter Verschluss zu halten.
    Viel zu lange schaute ich haarscharf daneben, weil ich nur den Raub von jüdischem Großbesitz im Blick hatte. Ich machte mir nicht klar, wie viele Arbeitslose, vor allem arbeitslose Akademiker, endlich wieder
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