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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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leid.
    Bis wir eines Tages nebeneinander in Reih und Glied angetreten standen, ein riesiges Karree, weiße Blusen und braune Hemden. Der einarmige Bannführer rief mit lauter Stimme einen Namen über den großen Platz: Horst Binder. Was jetzt kommen sollte, sah ich voraus. Er war ja mein Nachbar, und unsere Straße war seit Tagen voll von seinem Namen, aber ich konnte diesen Namen nicht mehr aussprechen, darum schwieg ich über ihn, auch zu Christa T. Ich wich ihrem fragenden Blick aus und wünschte, was ich nicht wünschen durfte: Ich stünde nicht hier, nicht in dieser Reihe; er, Horst Binder, würde nicht vom Bannführer belobigt dafür, daß er seinen Vater, einen Eisenbahner, wegen Abhörens feindlicher Sender angezeigt hatte.
    Ob sie begriff, warum wir uns nicht in die Augen sehen konnten, als wir wegtreten durften, habe ich nicht erfahren. Jetzt, während wir noch einmal vom Kaufhaus zum Bahnhof gehen, könnte ich ihr sagen, daß Horst Binder zuletzt, ehe die Rote Armee einzog, seine Mutter und sich erschossen hat. Wir könnten uns fragen, warum wir verschont geblieben waren, warum uns die Gelegenheiten nicht zugetrieben waren. Welche denn hätten wir ergriffen: Alle, keine? Und was wußten wir von uns, wenn wir das nicht wußten?
    Diese entsetzliche Dankbarkeit über den Mangel an Gelegenheit wird man nicht vergessen. Und diesen Argwohn gegen den Erwachsenen in sich ... Gegen ihn vorgehen, endlich, in voller Schärfe. Ihn verdächtigen, ihnanklagen, ihn überführen. Keine Widerrede dulden. Verteidigung höhnisch zurückweisen; das Urteil sprechen: lebenslänglich. Es annehmen. Es selbst vollstrecken.
    Lebenslänglich. Kein leeres Wort.
    Ein halber Satz genügt, auf einem Weg, sieben Jahre später, sich auch darüber zu verständigen.
    Damals brach sie zusammen. Die Arbeit war es nicht, obwohl sie schwer gewesen sein mag, Uniformteile zuschneiden in diesem mecklenburgischen Bauernhaus, an einem zerkratzten Holztisch, während es trotz allem wieder Sommer wurde. Der junge sowjetische Leutnant kam manchmal herein und stellte sich an den Türrahmen, sah ihr zu, sah sie an, keiner wußte, was der andere denken mochte. Er gab ihr einmal die Hand, ehe er ging: Warum traurig? Da lief sie nach Hause, warf sich aufs Bett, biß in die Kissen, dann half nichts mehr, sie schrie. Ach du lieber Himmel, Herr Lehrer, diese Empfindlichkeit aber auch! Und immer ohne Grund! Der Reiter, hinter dem nichts lag als ein zufällig fest gefrorener See, fiel tot vom Pferd, als er erfuhr, was er hinter sich hatte. Sie schrie nur, das ist nicht zuviel. Sie verbrannte ihre alten Tagebücher, da gingen die Schwüre in Rauch auf und die Begeisterungen, deren man sich nun schämte, die Sprüche und Lieder. Die Lebenszeit wird nicht ausreichen, wieder davon sprechen zu können, ihre Lebenszeit nicht. Für diese Sache bis zum Schluß die halben Sätze ...
    Da haben wir in demselben Sommer, keine fünfzig Kilometer voneinander entfernt, auf Feldern gearbeitet, die einander sehr ähnlich waren. Da muß sie gemerkt haben, daß man auch hier atmen kann, daß auch für diese neue Luft die Lungen gemacht sind. Also leben, sichaufrichten, schweißüberströmt, um sich blicken. Dieses Land also. Felder, Wiese, ein paar Büsche, der Fluß. Magere schwarzfleckige Kühe, Koppelzäune. Diese fremde flimmernde Hitze, die weit hinten am Horizont zwischen Himmel und Erde hin und her ging, ungemildert, ungekühlt vom Wald, der nach tiefer Überzeugung den Blick nach allen Seiten zu begrenzen hat. Das Gefühl von Unziemlichkeit überwinden, wenn das Land sich nackt und kahl und direkt, ohne die Vermittlung der Bäume, an den Himmel wendet. Den Blick heben. Nur nicht bis zur Sonne, die bringt mich um. Sie wird das Blau flüssig machen, metallisch und flüssig, sie gönnt es uns nicht, diese unerträgliche Sehnsucht nach dem wirklichen Blau, aber ich hole es mir, jetzt, eine Sekunde noch ... Ja.
    Man legte sie auf einen Wagen, man fuhr sie vom Feld. Ihr seht doch, sie schafft es nicht. Sieht kräftig aus, aber inwendig ist sie zart oder was. Soll sie doch annehmen, was der Bürgermeister ihr vorgeschlagen hat. Ihr kann doch so ein Neulehrerkurs nichts ausmachen. Sieht sie denn nicht, was mit den Kindern hier los ist? Also gut, sagt sie, warum nicht Lehrerin. – Sie sah mich von der Seite an, ob ich verstand, daß es ihr nicht geheuer gewesen war, das erste beste zu ergreifen, und dann noch dieses, das man, wie sie wußte, nicht halb tun kann. Lehrerin? sagte
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