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Nach uns die Kernschmelze

Nach uns die Kernschmelze

Titel: Nach uns die Kernschmelze
Autoren: Robert Spaemann
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folgende Tatsache: Während die Tötung von bereits geborenen behinderten Menschen unter Strafe steht, haben wir andererseits eine eugenische Indikation, derzufolge die Tötung kranker Embryos straffrei bleibt.
    Das ist in der Tat eine Schizophrenie, aus der die visuelle Voreingenommenheit spricht. Künftig werden wir einem Behinderten also wohl sagen müssen: Mein Lieber, es ist uns leider missglückt, dich frühzeitig daran zu hindern, in diese Welt zu kommen. Nun müssen wir halt für dich sorgen. Eine merkwürdige Art von Existenz, die man in einer Gesellschaft führt, von der man weiß, dass sie einen eigentlich umbringen wollte.
    Könnte die von Ihnen kritisierte Gleichgültigkeit gegenüber Natur und Leben nicht auch in einem fehlgeleiteten Wissenschaftsverständnis ihre Wurzel haben? Es gibt doch zu denken, wenn Thomas Hobbes schreibt: »Eine Sache erkennen heißt wissen, was man mit ihr machen kann, wenn man sie hat.«
    Der Ausspruch charakterisiert genau jenen Typus von neuzeitlicher Wissenschaft, die von Anfang an ein hybrides Programm war. Sie hat nämlich systematisch davon abgesehen, dass natürliche Wesen selbst eine zielgerichtete Verfassung besitzen, dass es ihnen also selbst um etwas geht – ein Umstand, den der Mensch zu respektieren hat. Stattdessen scheut man sich nicht, die Natur radikal zu objektivieren , und diese Vergegenständlichung hat nun auch vor dem Subjekt dieser Herrschaft, dem Menschen, nicht haltgemacht. Wenn der Mensch bis in seine geistigen Akte hinein versuchsweise zum Objekt biologischer Hypothesen wird, so heißt das: Sein Subjektstatus löst sich auf.
    Für viele ist Martin Heidegger der bedeutendste Vordenker solcher auf Sein-Lassen bedachten Ethik. Der Philosoph ist jetzt plötzlich in das Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geraten, weil er angeblich ein überzeugter Nazi gewesen sei. Wie bewerten Sie diese Auseinandersetzung um Heidegger?
    Ich bin kein Zeithistoriker. Fest steht jedenfalls, dass Heideggers Philosophie einen ungeheuren Einfluss in vielen Teilen der Welt ausgeübt hat. Und zwar bei Denkern, die derart weit auseinandergehenden politischen Richtungen angehören, dass eine Zuordnung von Heideggers Philosophie zu einer bestimmten politischen Ideologie unmöglich ist. Ich kann die von Ihnen aufgeworfene Frage jetzt nicht vertiefen. Es genügt vielleicht, darauf hinzuweisen, dass für Heidegger der Begriff der Freiheit aufs Engste zusammenhängt mit dem Gedanken des Sein-Lassens . Dieser Gedanke wird heute sicher besser verstanden als zu der Zeit, als er ausgesprochen wurde.
    Stichwort Sein-Lassen: Sie sprachen von einem »hybriden Programm« neuzeitlicher Wissenschaft, das sich inzwischen auch des Menschen selbst bemächtigt habe. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung?
    Es heißt den Menschen zu instrumentalisieren, wenn man den Beischlaf um seine potentielle, auf Weitergabe des Lebens gerichtete Dimension künstlich verkürzt und ihn so zum bloßen Werkzeug subjektiven Lustgewinnsmacht. Umgekehrt wird der Mensch genauso degradiert, wenn man die Weitergabe des menschlichen Lebens ablöst von dem lustvollen Akt, als dessen natürliche Folge sie normalerweise geschieht und den wir Zeugung nennen. Ich lehne die künstliche Befruchtung aber auch deshalb ab, weil hier zum ersten Mal ein Mensch zum Geschöpf anderer Menschen wird.
    Können Sie diesen Vorbehalt erläutern?
    Wir treten alle in die Gesellschaft ein von Natur, kraft eigenen Rechts, als natürliche Nebenfolge der Liebe. Bei der Retortenproduktion wird ein Kind jedoch ins Leben gezwungen, indem es von Hand zusammengerührt wurde. Und dieses Kind kann eines Tages, wenn es unglücklich ist, sich an seine Eltern wenden und sagen: Warum habt ihr mich ins Leben gezwungen? Ein normaler Vater und eine normale Mutter können auf diese Frage unbefangen antworten: Du bist so ins Leben gekommen, wie alle anderen Menschen ins Leben kommen. In diesem Falle aber sind die Eltern rechenschaftspflichtig, und meiner Ansicht nach kann ein Mensch weder für das Leben noch für den Tod eines Menschen Rechenschaft ablegen, denn das übersteigt, was wir verantworten können.
    An dieser Stelle sei einmal ein Wort Ihres Kollegen Odo Marquard zitiert, der vor einer »Ethik der großen Verbote« warnt und eine »nicht-zensuristische Moral« fordert.
    Das scheint mir eine etwas zweideutige Forderung zu sein. Wir können uns eine Ethik nicht ausdenken. Wenn Odo Marquard meint, nicht
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