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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst
Autoren: Peter Lindenthal
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noch mit Verwunderung, knapp bevor mich der Schlaf von diesen düsteren Gedanken befreit.

2. Kapitel

Aus der Traum — Wintereinbruch

Donnerstag, 2. März St. Eutrope — Villelongue

Der Tag, als der Regen kam

    Kein Regen, kein Schnee, kein abstürzender Ajiz! Die Sonne scheint, es ist ein herrlicher Morgen und die Angstphantasien sind im Reich der Nacht geblieben. Der Wind weht auch nicht mehr so stark, die Aussicht ist einmalig. Letzten Endes war St. Eutrope den Umweg wert, und nur schwer reiße ich mich nach dem Frühstück mit Tee, Brot und Käse von diesem besonderen Platz los. Heute wartet eine lange Etappe auf mich, ich möchte bis Villelongue kommen, das an einem See liegt. Dann habe ich den Parc Naturel du Haut Languedoc hinter und die Ebene bis Toulouse vor mir.
    Nach dem Abstieg, den auch Ajiz problemlos bewältigt — er ist übrigens ein ausgezeichneter Kletterer verabschiedet sich die Sonne und macht dem Regen Platz. Wie sich später herausstellt, für den ganzen Tag. Dazu verliere ich noch etwa 40 Minuten, weil ich schlampig auf die Karte geschaut habe und deshalb im Kreis gehe. Ich fluche ganz schön, als ich feststelle, daß ich den wunderschönen Weg am Ufer eines Bachs, der mir so vertraut vorkommt, schon in der umgekehrten Richtung gegangen bin...
    Es soll mir eine Lehre sein: Schaue lieber einmal zuviel als einmal zuwenig auf die Karte! Auch wenn du ganz sicher bist und der Weg klar vor dir liegt (oder zu liegen scheint), schau trotzdem noch einmal auf die Karte, um dich zu vergewissern, wo deine exakte Position ist!
    Der Weg selber ist wunderschön, er führt mich durch unberührten Wald auf über tausend Meter Seehöhe und verläuft großteils auf der historischen Route des Jakobsweges, was an den alten Wegweisern in Form eines Jakobskreuzes mit Muschel zu erkennen ist. So wie der Palmzweig für die Jerusalem-Pilger und das Kreuz für die Rompilger, wurde die Muschel zum Symbol für die Jakobspilger.
    Wieder treffe ich unterwegs keinen Menschen, der Tag ist grau, kalt und gräßlich geworden. Teilweise liegt noch Schnee an Wegrand und Ajiz wälzt sich selig darin. Er ist — im Gegensatz zu mir — in seinem Element! Und wie um mir das gleich zu beweisen, verschwindet er zum ersten Mal seit Arles für eine Weile im Wald, mitsamt den Satteltaschen, die seinen Jagdeifer offensichtlich in keiner Weise bremsen. Die Fährte eines Hasen ist ihm anscheinend zu verlockend in die Nase gestiegen. Aber nach zehn Minuten ist er, ganz Unschuld, wieder zurück. Ich bin froh, daß er wieder da ist — was täte ich, wenn einmal wirklich etwas passierte? — und schimpfe ihn halt pro forma.
    In Murât sur Vèbre kaufe ich Tabak und Lebensmittel ein — meine Finger sind ganz klamm vor Kälte und ich habe Mühe, die Münzen abzuzählen. Es regnet immer noch in Strömen, meine bisher so freudig zelebrierte Mittagsrast in der Sonne wird abgesagt und durch einen Bissen Brot und einen Schluck Wein, praktisch im Stehen, ersetzt. Mittlerweile ist es schon vier Uhr nachmittag vorbei, und ich habe noch fast drei Stunden Marsch bis Villelongue vor mir. Ich könnte zwar in Murat sur Vèbre bleiben, aber das Dorf erscheint mir im Regen grau und unfreundlich, alles andere als einladend. Ich weiß, das ist ungerecht, denn bei so einem Wetter sieht alles grau und unfreundlich aus, aber ich will heute ja auch noch ein Stück weiterkommen.
    Kurz bricht sogar einmal die Sonne durch — sie ist also noch da! — und die Stimmung bessert sich schlagartig. Die Schönheit des Weges und der Landschaft wirkt wieder auf mich, der Schritt wird gleich leichter. Ich durchquere endlos scheinende Buchenwälder, manchmal versinke ich bis zu den Knöcheln im Buchenlaub vom letzten Herbst, und mein Schritt im raschelnden Laub ist das einzige Geräusch weit und breit. Ein Genuß! Aber dann kommt wieder der nasse Segen von oben, und die letzten 50 Minuten bis Villelongue, auf Asphalt, ziehen sich ewig. Erst bei Einbruch der Dunkelheit — und strömendem Regen — treffe ich im Dorf ein, das vollkommen ausgestorben scheint. Kein Gasthaus, kein Fremdenzimmer, kein Gîte! Langsam kommt Verzweiflung auf, wir sind beide bis auf die Knochen naß und bräuchten dringend einen Platz zum Trocknen und Aufwärmen! Wo sollen wir schlafen — fetznaß, ausgekühlt und „hundemüde“?
    Doch der „Geist von Santiago“ kommt uns zu Hilfe. Eine alte Frau — sie ist 86! — erbarmt sich unser. Sie hat zwar Angst und traut sich nicht, uns in ihrem Haus
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