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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende
Autoren: Alden Bell
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dieses Riesenbaus fühlt sie sich klein wie eine Erbse. Ein letztes Mal klettert sie hinauf zur Galerie und mustert sich in den tausend winzigen Spiegeln der toten Lampe. Ihr Haar ist lang und strähnig, und sie bindet es sich mit einem Gummi nach hinten.
    Eigentlich ist sie nicht sonderlich scharf auf den Blick nach innen. Aber in jedem Kopf lauern Geheimnisse, und sie möchte nicht, dass eins davon sie plötzlich von hinten anfällt. Manchmal lohnt es sich, sich tief ins Innere zu versenken, auch wenn dir von den dunklen Winkeln dort mulmig werden kann.
    Wieder unten zieht sie die Tür fest hinter sich zu, damit der Wind sie nicht aufreißen und alles durcheinanderschmeißen kann. Es ist eine herzerwärmende Vorstellung, dass alles so bleiben wird, nachdem sie fortgegangen ist.
    Sie steht am Fuß des Baus und legt den Kopf weit in den Nacken, um hinaufzuschauen.
    Lebwohl, guter alter Turm. Halt weiter schön Wache. Und pass auf alle auf, die sich in dir niederlassen, ob tot oder lebendig, Sünder oder Heilige.
    Sie nickt. Eine nette Ansprache, findet sie, wie ein Segen oder ein Trinkspruch oder ein Geburtstagswunsch oder eine Grabrede. Sie weiß, dass Worte die Kraft haben, Dinge wahr werden zu lassen, wenn sie richtig gesagt werden.
    Unten am Strand zieht sie sich nackt aus und legt ihre Kleider und Schuhe zu all den anderen Sachen in die Kühlbox. Um den Deckel möglichst fest zu verschließen, stampft sie darauf herum. Sie zerrt den Kasten ins Wasser, bis er von selbst mit der Strömung treibt, dann reißt sie ihn sich vor die Brust und stößt ihn über die Brecher. Schließlich hat sie auch die Dünung hinter sich.
    Sie schwimmt Richtung Festland und hält sich fern von der Untiefe, damit sie nicht von der Strömung auf die Felsen geschleudert wird. Die Arme fest um die Kühlbox geschlungen, stößt sie sich mit den Beinen ab, und wenn sie müde wird, pausiert sie und gleitet dahin, immer mit dem Blick aufs Festland, um zu erkennen, wohin die Strömung sie zieht. Übers Wasser streicht eine Brise, und sie bekommt Gänsehaut, aber es ist trotzdem besser, als zu Mittag hinüberzuschwimmen, wenn die Sonne direkt von oben herunterknallt und dich versengt wie eine Eidechse.
    Sie hat keine Ahnung, wie lang sie braucht, aber sie ist keine schnelle Schwimmerin, und es fühlt sich an, als wäre eine Stunde vergangen, als sie das Festland erreicht. Sie wuchtet die Kühltasche hoch zum Strand und setzt sich auf einen Felsen, um sich das Salzwasser aus den Haaren zu wringen und sich im Morgenwind zu trocknen.
    Der Strand ist verlassen. Sie holt ein kleines Fernglas aus der Kühlbox und steigt über zerborstene Betonstufen hinauf zu einem erhöhten Kiesplatz, um sich einen Überblick zu verschaffen. Ein Stück weiter vorn an der Straße stehen zwei Wagen und in der Ferne mehrere Schuppen. Hinten am Horizont bemerkt sie einige Schaben. Sie haben ihre Witterung nicht aufgenommen und torkeln in der für sie typischen ziellosen Art herum. Sie duckt sich und richtet das Fernglas wieder auf die beiden Autos. Eins ist ein Jeep, das andere ein gedrungener roter Wagen mit zwei Türen. Soweit sie es erkennen kann, sind alle Räder intakt.
    Wieder am Strand kämmt sie sich mit den Fingern das Haar aus, bis sie durch den Vorhang ihrer Strähnen eine ferne Gestalt wahrnimmt. Sie braucht keinen Feldstecher, um zu erkennen, was das ist. Der trampelhafte Gang sagt alles. Ein Fleischsack. Sie zupft sich die letzten Knoten aus dem Haar und bindet es zu einem Pferdeschwanz zusammen.
    Dann nimmt sie ihre Sachen aus der Kühlbox und zieht sich an.
    Die Schabe hat sie bemerkt und steuert auf sie zu, bleibt aber mit den Füßen immer wieder im Sand hängen.
    Sie späht durchs Fernglas.
    Die tote Frau trägt eine Schwesternuniform. Das Oberteil ist krankenhausgrün, die Hose bunt wie von einem Schlafanzug. Temple kann das Muster nicht genau erkennen, doch es könnten Lollipops sein.
    Sie schiebt das Fernglas zusammen und verstaut es in ihrer Tasche. Dann tritt sie zur Kühltasche und zieht die Pistole heraus. Nachdem sie sich vergewissert hat, dass die Patronen nicht nass geworden sind, befestigt sie das Gurkhamesser in der Scheide am Gürtel und fixiert es mit zwei Lederriemen am Schenkel.
    Als sie fertig ist, ist die Krankenschwester noch zwanzig Meter entfernt. Sie hält die Arme vor sich ausgestreckt. Blanker Instinkt. Hunger, Durst, Lust – all die verkümmerten Triebe zusammengeknotet in einem krampfhaft zuckenden Magen.
    Nach einem
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