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Mutter des Monats

Mutter des Monats

Titel: Mutter des Monats
Autoren: Gill Hornby
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obwohl sie im tiefen dunklen Loch namens Selbstmitleid steckte. St. Ambrose, eine sechsstufige Grundschule in kirchlicher Trägerschaft, thronte auf einem Hügel über der kleinen Stadt und bot einen Ausblick über die sattgrüne Landschaft, die leider nur so weit reichte, bis sie an das unvermeidliche Gewerbegebiet stieß. Rachel bewunderte die pseudosakrale Architektur, den bogenförmigen Eingang und das schräge Dach, weil sie sich an die Werte des glanzvollen 19. Jahrhunderts erinnert fühlte, das auch diese Schule hervorgebracht hatte. Stundenlang konnte sie unter der alten Buche stehen und das Schattenspiel beobachten, das die wild verzweigten Äste auf den Schulhof malten, wo jetzt die Kinder spielten und sich die Eltern versammelt hatten.
    Und selbstverständlich mochte sie die Kinder und ihre Eltern. Na gut, vielleicht nicht alle. Nicht umsonst war St. Ambrose wegen seines Gemeinschaftsgeistes berühmt. Die Schule war im ganzen Land dafür bekannt, dass ihre Mitglieder wie eine große, glückliche Familie fest zusammenhielten. In St. Ambrose waren alle füreinander da, darauf war man stolz. Oder jedenfalls einige. Mit denen hatte Rachel allerdings so wenig Kontakt wie möglich – danke, kein Bedarf –, ohne unhöflich zu erscheinen. Auch heute beobachtete sie aus der Ferne, wie die Mütter, einer großen glücklichen Familie gleich, Bea umschwirrten und ganz zappelig vor Aufregung die Hände in die Luft reckten, um sich freiwillig für irgendeine Aufgabe zu melden. Rachel schüttelte den Kopf. Die brachten sie manchmal echt zur Verzweiflung. Trotzdem fand sie Beas Leistung wirklich erstaunlich: Wie sie es schaffte, den Leuten tödlich langweilige, garantiert spaßfreie Aufgaben aufs Auge zu drücken und dafür auch noch Dank zu ernten, das war schon beeindruckend. Bea im Kreis dieser Frauen zuzusehen, wie sie Pläne schmiedete, Befehle erteilte, Großes anstrebte und Berge versetzte, hieß, ein Geschöpf in seinem Element zu beobachten. Das war Bea, wie sie leibte und lebte. Rachel konnte ihr nur mit großer Zuneigung und Bewunderung dabei zuschauen. Sie und Bea kamen einfach von unterschiedlichen Planeten. Doch das war nicht weiter schlimm: Vom ersten Tag an waren sie eng befreundet gewesen, beste Freundinnen seit der Einschulung ihrer Töchter vor sechs Jahren.
    Die typischen Geräusche des ersten Schultags nach den Sommerferien – der Singsang des Morgengrußes, das Scharren kleiner Stühle, die vor niedrige Tische gezogen wurden, das Klappern von Ranzenschnallen – drangen durch die geöffneten Fenster nach draußen. Plötzlich nahm Rachel aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahr, die sie noch nie gesehen hatte: groß, dunkelhaarig, elegant vom akkuraten, schwingenden Bob bis zu den modischen Ballerinas. Sieh an, dachte sie, während sie sich den Hals verrenkte, um die Frau besser mustern zu können, endlich mal ein Neuzugang mit Potenzial. Ihre lange, ernüchternde Erfahrung hatte sie zwar gelehrt, dass sich die Neuzugänge spätestens im September so unwesentlich von den Abgängen des vergangenen Schuljahres unterschieden, dass man sie glatt verwechseln konnte, doch vielleicht würde sich das im kommenden Jahr ja ändern. Dieselbe Handlung, aber zumindest neue Schauspieler?
    Die Neue näherte sich der Gruppe um Bea, blieb aber am Rand stehen. Sie schien unschlüssig, ob sie sich dazugesellen sollte, wog offenbar Vor- und Nachteile ab, ging aber dann doch in Richtung Schultor und Parkplatz davon. Während Rachel sich wünschte, die Neue wäre ein wenig länger geblieben, nur eine Minute, damit sie sie näher kennenlernen könnte, beglückwünschte sie die Frau innerlich dazu, dass sie sich schleunigst aus dem Staub gemacht hatte, bevor man sie über den Tisch ziehen konnte. Trotz dieser Einsicht machten sich bei ihr auf einmal Schuldgefühle breit, weil sie nicht mitmachte, und zerrten an ihr wie ein nörgelndes Kleinkind, schoben und zogen sie in eine Ecke, in der sie gar nicht sein wollte. Es half alles nichts. Sie musste nachgeben. Rachel seufzte und schleppte sich zum Baum, um sich eine kleine, unwichtige Aufgabe abzuholen – weil sie eben dazugehörte.
    »Ach, das ist wunderbar . Danke, wie reizend von dir«, sagte Bea gerade zu der wenig reizenden Clover, die immer in der Nähe lauerte, wie eine dunkle Wolke am Himmel bei einem Picknick. »Und Colette, Jasmine und Sharon sind mit an Bord. Alles alte Hasen.«
    Bea kannte alle mit Namen. Wie machte sie das nur? Rachel sah diese Frauen jeden Tag,
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