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Murray,Paul

Murray,Paul

Titel: Murray,Paul
Autoren: Skippy stirbt (Teil 1)
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zweifelnd. »Meinst du
das?«
    Skippy
atmet aus - er lächelt. Dann streckt er sich auf den Fliesen aus, und Ruprecht
sieht ganz deutlich, wie das Auf und Ab von Skippys Brust sanft zum Stillstand
kommt.
    »He!«
Ruprecht packt ihn an den Schultern und schüttelt ihn. »Hey!, was soll denn
das?«
    Skippy
antwortet nicht.
    Einen
Moment lang herrscht kalte, karge Stille, dann bricht, fast wie auf den
allgemeinen Wunsch, sie auszufüllen, ein ohrenbetäubender Tumult in dem Lokal
los. Luft!, ist die einhellige Meinung. Er braucht frische
Luft! Die
Tür wird aufgerissen, und die kalte Novemberluft strömt gierig herein. Ruprecht
merkt, dass er reglos dasteht und auf seinen Freund hinabschaut. »Atme!«,
schreit er ihn an und gestikuliert sinnlos wie ein wütender Lehrer. »Warum
atmest du nicht?« Aber Skippy liegt einfach nur mit einem friedlichen
Gesichtsausdruck da, so still, wie es stiller nicht mehr geht.
    Ringsum
gellt die Luft von Schreien und Vorschlägen, Dingen, an die sich die Leute aus
Krankenhausserien im Fernsehen erinnern. Ruprecht hält das nicht aus. Er
drängt sich zwischen den Umstehenden durch zur Tür hinaus. Draußen beißt er
sich auf den Daumen und sieht zu, wie der Verkehr vorbeiströmt, dunkle, anonyme
Fahrzeuge, von denen keines nach einem Krankenwagen aussieht.
    Als
er wieder hineingeht, kniet Zhang Xielin neben Skippy und hält seinen Kopf auf
dem Schoß. Doughnuts liegen über den Boden verstreut wie kleine kandierte
Kränze. In der Stille sehen die Leute Ruprecht mit feuchten, mitfühlenden Augen
scheu an. Ruprecht starrt feindselig zurück. Er schäumt innerlich, er glüht, er
bebt vor Wut. Am liebsten würde er hinausstürmen, auf sein Zimmer gehen und
Skippy liegen lassen. Am liebsten würde er »Warum? Warum? Warum? Warum?«
schreien. Er geht wieder hinaus, um in den Verkehr zu starren, er weint, und in
diesem Moment spürt er, wie die Hunderttausende von Fakten in seinem Kopf zu
Matsch werden.
    Durch
die Lorbeerbäume kann man oben in einer Ecke des Seabrook Tower gerade noch das
Fenster ihres gemeinsamen Zimmers ausmachen, wo Skippy vor kaum einer halben
Stunde Ruprecht zu dem Wettessen herausgefordert hat. Der große rosa Ring auf
dem Dach von Ed's Doughnut House sendet sein kaltes synthetisches Licht aus,
eine Neonnull, die den Mond und alle Sternbilder des unendlichen Raums dahinter
überstrahlt. Ruprecht schaut nicht in diese Richtung. Das Universum erscheint
ihm in diesem Augenblick als etwas Furchtbares - dünn und fadenscheinig und
leer. Anscheinend weiß es das selbst und wendet sich beschämt ab.
     
    Teil 1
     
    HOPELAND
     
    Diese Tagträume hielten sich wie ein alternatives Leben ...
    Robert
Graves
     
    Früher
hat Howard in den Wintermonaten von seinem Platz am mittleren Pult der
mittleren Reihe aus immer aus dem Fenster des Geschichtsraums geschaut und
beobachtet, wie die ganze Schule in Flammen aufging. Die Rugbyfelder, der
Basketballplatz, der Parkplatz und die Bäume dahinter - für einen wunderschönen
Moment wurde das alles verschlungen. Und obwohl der Bann gleich wieder
gebrochen war - das Licht wurde schwächer und röter, verglomm schließlich und
ließ die Schule und ihre Umgebung unversehrt -, wusste man wenigstens, dass der
Tag fast vorüber war.
    Heute
steht er vor der Klasse - die falsche Perspektive und die falsche Jahreszeit,
um den Sonnenuntergang zu sehen. Er weiß jedoch, dass es erst in einer
Viertelstunde klingelt, deshalb fasst er sich an die Nase, seufzt unhörbar und
versucht es noch einmal. »Na los. Die wichtigsten Länder. Nur die wichtigsten.
Na, wer traut sich?«
    Die
schläfrige Stille bleibt ungestört. Die Heizkörper glühen, obwohl es draußen
nicht besonders kalt ist: Die Heizung ist überaltert und launisch, wie die
meisten Sachen in diesem Trakt der Schule, und im Lauf des Tages baut sich die
Wärme zu einem schwülen Malariamief auf. Howard beschwert sich natürlich, genau
wie die anderen Lehrer, ist aber insgeheim nicht undankbar; zusammen mit der
einschläfernden Wirkung des Geschichtsunterrichts sorgt die Hitze dafür, dass
der Unruhepegel in den letzten Stunden nur selten über leise summendes
Geschwätz und einen gelegentlichen Papierflieger hinausgeht.
    »Na,
wer?«, wiederholt er und schaut suchend in die Klasse, wobei er geflissentlich
Ruprecht Van Dorens hochgestreckten Arm übersieht, unter dem sich Ruprecht
atemlos abmüht. Die anderen Jungen blinzeln Howard an, als wollten sie ihn
dafür tadeln, dass er ihre Ruhe stört.
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