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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul
Autoren: Skippy stirbt (Teil 3)
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anfassen könnte. Aber
die Strings verbinden die beiden immer noch, und Ruprecht meinte, durch sie
könnte er diesen Song zu Daniel leiten.
    Du glaubst, er ist in dem Miniaturuniversum?
    Naturwissenschaftlich betrachtet spricht einiges dafür,
sagte er.
    Naturwissenschaften hat Lori in der Schule immer am wenigsten
gemocht, und sie verstand nicht so richtig, wovon er da redete. Es hörte sich
an, als spräche er vom Himmel, und sie sah ein Bild vor sich, wo auf einer von
Moms Kunst-CD-ROMs alle in den Himmel schauen, der zum Teil irgendwie
weggerissen war, und durch das Loch kam Licht, und da standen Engel mit Jesus,
der eine Fahne hielt. Sie hat sich nie vorgestellt, dass Daniel im Himmel ist
oder sonst wo, denn wann immer sie an ihn gedacht hat, hat es ihr die Kehle
zugeschnürt, und sie hat das Bild mit dem Mund voll Erde vor sich gesehen.
    Du musst es nicht verstehen, sagte Ruprecht. Du musst bloß
singen.
    Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern blinzelten
flehentlich. Sie dachte, wie verzweifelt muss man sein, um jemanden, den man
hasst, um so was Verrücktes zu bitten.
    Wie soll das denn gehen?, sagte sie. Ich kann hier nicht
weg.
    Dafür haben wir einen Plan. Aber machst du es?
    Ich weiß nicht, sagte sie, ich weiß nicht. Früher hatte
sie immer Sängerin werden wollen, aber jetzt war es für all das schon so spät,
sie war so müde, ihr Körper tat weh, fühlte sich an wie ein Haufen alter
Knochen, wie ein Jengaspiel, das sich endlos hinzog und jetzt einfach in sich
zusammenfallen wollte. Dann fragte sie Ruprecht, welchen Song er denn spielen
würde.
    Bethani , sagte Ruprecht. »3Wishes«.
    Und für den Bruchteil einer Sekunde war es, als wäre der
Garten plötzlich strahlend hell erleuchtet, wuuusch !, als hätte jemand eine 1ooo-Watt-Bime in den
Wolken angeschaltet. Weil, »3Wishes« war doch der Song, den sie Daniel
vorgesungen hat, auf dem Heimweg von der Party, und wie viele Träume hat sie an
dem Abend gehabt?
    Darum hat sie am nächsten Morgen - heute Morgen, das kommt
ihr schon so lange her vor! - extra lange geduscht und Tonleitern und
Stimmbildungsübungen aus dem Internet geübt und sich hunderttausend Mal »3Wishes«
angehört, obwohl ihr die Worte schon seit Ewigkeiten ins Herz eingebrannt sind.
Dann, nach der Gruppen»mahlzeit«, ist sie raufgegangen und hat ihre Tür
abgeschlossen, und obwohl sie gar nicht aus dem Zimmer raus muss, hat sie sich
geschminkt und frisiert und das Kleid angezogen, das Mom ihr für das Interview
gekauft hat.
    Dann hat sie die Pillen aus Lalas Bauch rausgenommen und
sie mit den Pillen, die die Schwester ihr gegeben hat, auf die Kommode gelegt,
für danach, denn sowie Ruprecht das gesagt hat, hat sie gewusst, dass der Song
ein Zeichen ist - ein Zeichen, dass der Plan so weit ist, dass heute Abend die
Sirenen kommen und sie holen würden.
    Komisch, die Vorstellung, vor Leuten zu singen, wenn auch
bloß übers Handy, hat ihr mehr Angst gemacht als tot zu sein. Acht Uhr kam wie
etwas, das vom Himmel fällt, wurde größer und größer, bis es alles ausfüllte.
Sie hat versucht, sich zu übergeben, aber es war nichts in ihr drin, was sie
hätte ausspucken können. Sie hat auf ihren Nägeln herumgebissen und dem
blechern knisternden Applaus gelauscht und Titch Fitzpatrick, der die Nummern
ankündigte, andere Sänger in ihrem Handy. Dann schließlich Ruprechts Stimme in
ihrem Ohr. Wir sind dran.
    Sie konnte die Musik kaum hören, aber sie sang so gut sie
konnte, hoffte einfach das Beste. Sie sang, lief barfuß über den Teppich,
stellte sich ans Fenster und sang den Song, schaute hinaus auf die Bäume und
die Sterne und die Häuser. In der Ecke tickte das Metronom - Ruprecht hatte es
am Abend vorher eingestellt -, sie schloss die Augen und stellte sich vor, sie
wäre Bethani ; dann sah sie sich selbst, auf dem Rückweg von der Party,
mit Regentropfen im Haar und Daniel neben sich. Sie stellte sich vor, wie der
Song die Nacht rings um sie zum Leben erweckte, und wenn sie ihn richtig sang,
würden sie von dort direkt zurück ins Heute laufen ... Dann brach da auf einmal
dieser irre Lärm los, und die Leitung war tot, und sie stand allein in einem
stillen Zimmer.
    Sie hat gedacht, Ruprecht würde danach vielleicht anrufen,
aber von ihm kam nichts. Egal, es spielte wohl keine Rolle mehr. Sie hatte so
ein komisches Gefühl, als würde sie schweben - nicht so, wie wenn man nichts
isst und kurz vorm Umkippen ist, eher so wie damals, als sie noch klein war und
mit einem
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