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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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jenen
längst vergangenen Abenden immer auf die Wellen hinuntergeschaut und für Bel und
mich Gedichte rezitiert hatte: Komm hinweg, du Menschenkind, zu
den Wassern, zu dem Wind.
    Unten
waren Boote mit Tauchern zu sehen, doch das Wasser vor den Klippen war so
unruhig, dass eine richtige Suche nicht möglich war. Wir müssten einfach
abwarten, sagten sie bedeutungsvoll, und wir verstanden und nickten. Die ganze
Zeit rechnete ich damit, dass sie lachend ins Zimmer spazieren und erklären
würde, alles sei nur ein Ulk, eine abgekartete Sache, ein Missverständnis
gewesen. Aber sie tauchte nicht auf und wurde auch nicht ans Ufer gespült; nach
einer Woche legte der Untersuchungsrichter den Fall mit dem Urteil
»Unglücksfall mit tödlichem Ausgang« zu den Akten.
    Die
ohnehin schon bedrückend unwirkliche Atmosphäre während des Gottesdienstes
wurde durch Bels Abwesenheit noch verstärkt. Die Prozedur in der winzigen Kirche
hatte etwas von einer Probe (aber für wen? für was?); die Leute gingen merkwürdig
behutsam mit ihrer Trauer um. Mutter arbeitete hart dagegen an, um dem Anlass
die angemessene Würde zukommen zu lassen. Anwesend waren: die orgiastisch
wehklagenden Schauspieler; die Freunde vom Trinity College; die von der Zeit
schon etwas gezeichneten Mädchen aus ihren Schuljahrbüchern; die zahllosen
Tölpel, Dumpfbacken, Schwachköpfe und Beckmesser, mit denen sie gegen meinen
Rat ihre Zeit verplempert hatte; die Litanei aufgeblasener Onkel und Tanten
sowie dröger Cousins und Cousinen zweiten Grades, die angeführt wurde von
Mutters Tante, der giftigen alten Jungfer, die anscheinend nur zu Anlässen wie
diesem wieder zum Leben erwachte; Freunde der Familie, soll heißen, Figuren aus
der feinen Gesellschaft, denen man nur ein oder zwei Mal begegnet war: der Kerl
mit dem glänzenden Schädel und den Supermärkten, einige unbedeutende Gestalten
aus dem Smorfett-Klan, der Earl aus Soundso, der sich mal vor vielen Jahren bei
einem Riesenfest in Mutters Dekollete übergeben hatte. Jeden Einzelnen begrüßte
Mutter mit einem Lächeln und einem tief empfundenen Wort des Dankes. In solchen
Dingen war sie wirklich gut.
    Noch am
selben Abend rief sie die Theaterleute zu sich und sagte ihnen, dass die
Familie es vorzöge, eine Zeit lang in Ruhe gelassen zu werden. Erst als sie
alle aus dem Haus waren, ging mir auf, dass mit »Familie« jetzt nur noch wir
beide, plus unserem dürftigen Gefolge, gemeint waren.
    In der
Stille der folgenden Nachmittage schien das Haus größer zu werden, größer und
kälter, egal, wie viele Kamine angezündet waren. Man kam sich ein bisschen vor
wie ein Arktisforscher, der eine Eiswüste durchwanderte; man tappte ziellos
herum, einzig gewärmt von zahllosen Tassen Tee und der Zunge des rekonvaleszenten
Hundes, der einem die Hand leckte. Vuk und Zoran hatten sich in den
Gartenschuppen zurückgezogen, wo man sie ganz leise »You Are My Sunshine« üben
hören konnte. Mirela verließ ihr Zimmer nie. Es war möglich, einen ganzen Tag
lang mit niemandem zu sprechen.
    Gelegentlich
lief mir Mutter über den Weg, auf der Treppe oder in der Halle, immer im
Morgenmantel und mit einem Glas Whisky in der Hand. Wir wechselten dann ein
paar flüchtige Sätze über die Spinnweben oder den Staub. Mrs P kochte Mahlzeiten,
die niemand aß und die den ganzen Abend auf dem Esszimmertisch standen; sie
putzte, wischte und saugte Staub von morgens bis abends, und doch sah es immer
gleich aus. Jeden Tag fiel ein weiteres Stück vom Haus der Dunkelheit anheim.
Ältere Mächte setzten sich wieder ins Recht, und wir leisteten nur wenig
Widerstand.
    Ich saß
die meiste Zeit in Bels Zimmer, blätterte in ihren Jahrbüchern oder schaute
mir alte Fotos aus der Zeit vor dem Fotografierverbot an. Auf einem hatte sie
die Arme um den namenlosen Hund geschlungen und schaute in die Kamera, als
bitte sie um Gnade für ihn. Ich fragte mich, ob sie jemals von diesem Gedanken
aus ihrer Kindheit, dass nämlich nichts auf der Welt von Dauer sei, dass man
jeden Schritt auf dünnem Eis tue, dass jeder Sonnenuntergang der letzte sein
könne, abgelassen hatte. Ich fragte mich, ob wir es nie geschafft hatten, sie
davon abzubringen. Ich saß in der bleichen Novembersonne und schaute mich im
Zimmer um, als sähe ich es zum ersten Mal. Ob auf den Rosenholztüren des
Kleiderschranks, den mit Rüschen besetzten Samtvorhängen, dem halben Dutzend
seiden glänzender Abendkleider - ich bildete mir ein, überall ihr Bild zu
sehen, das aber in dem
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