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Munzinger Pascha

Munzinger Pascha

Titel: Munzinger Pascha
Autoren: A Capus
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Mädchen? Das glaubt mir kein Mensch. Mit der Kunst? Violette Silhouette durch gelben Feuerreif? Oder mit Politik? Betroffenheit, Raumschiff Erde und Menschlichkeit? Damit nicht. Damit bestimmt |34| nicht. Ingrid war furchtbar in Eile vorhin. Möchte nur wissen, was sie wieder für eine Sitzung hat   – nein, es ist mir egal. Daß die Weiber dauernd Kurse besuchen müssen und Vereine gründen! Mir kann’s ja wurscht sein, wenn sie keine Zeit mehr haben für ihre Kinder. Ich bin gerne Vater, erfülle meine Pflichten mit Freude.
    Ich breitete meine Zingg-Notizen und das Archivmaterial auf dem Schreibtisch aus. Da geriet mir ein kleines, freundliches Büchlein in die Hände, das mir der Chef im Vorbeigehen aufs Pult geworfen hatte. Es roch gemütlich nach Bücherschrank. Auf dem Rücken stand in goldener Prägeschrift:
Werner Munzinger Pascha, sein Leben und Wirken.

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    Bern, im März 1849.   Werner ist siebzehn Jahre alt und studiert an der Universität Philosophie, Geschichte, Geographie, Arabisch und Hebräisch. Es ist kurz vor Mitternacht; zusammen mit seinem Bruder Walther sitzt er im Licht einer Petroleumlampe an einem Eichentisch. Walther ist vertieft in die Bundesverfassung, an der der Vater mitgeschrieben hat, Werner hat einen Stapel Bücher vor sich aufgetürmt und macht Notizen. Im Haus ist es still; die Eltern sind schlafen gegangen, das Dienstmädchen hat sich in die Dachkammer zurückgezogen. Die Standuhr schlägt stur den Takt, in der Ecke bullert der Holzofen, und vor dem Fenster hallen die Schritte eines späten Heimkehrers übers Kopfsteinpflaster.
    Werner und Walther sind fleißige Studenten. In jener Nacht   – wie in vielen zuvor und vielen danach   – gehen sie überhaupt nicht zu Bett, sondern lesen Stunde um Stunde, bis zum Morgengrauen. Um sechs Uhr steht das Dienstmädchen auf. Es wundert sich über die zwei Söhne des Herrn Bundesrat und bringt ihnen Milchkaffee.
    »Es entstand zwischen Werner und mir ein veritabler Wettstreit, bei dem wir aber zusammenhielten«
, wird Walther sich später erinnern.
»Nickte der eine ein, schüttelte ihn der andere, und verfiel dieser dem Schlaf, weckte ihn der eine. So vergingen Tage und
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Nächte. Einmal geschah es, daß wir erst nach zweiundsiebzig Stunden ununterbrochenen Studiums die Köpfe sinken ließen und auf unseren Stühlen in tiefen Schlaf verfielen.«

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    Dieses verdammte Portrait. Ich gab auf. Heute wurde das nichts mehr, und morgen war auch noch ein Tag. Sowieso hatte ich mir vorgenommen, mich heute abend zu betrinken. Verschiebe nicht auf morgen, was du heute kannst besorgen. Ein richtig gründliches Besäufnis war jetzt, da der Kleine hier war, natürlich nicht mehr angezeigt; aber zwei oder drei Gläser zur Entspannung konnten nicht schaden. Ich sah noch rasch nach dem Kleinen   – schlafen konnte er für eine Stunde auch ohne mich   –, brachte das Baby-Phone hinüber zur Nachbarin und lief schräg über die Straße in den ›Ochsen‹, unsere Quartierkneipe. Sie war wie immer gut besetzt mit langjähriger Stammkundschaft   – Leuten, die authentisch nikotingelbe Wände lieber mochten als dieses Pseudo-Terrakotta in mexikanischen In-Lokalen. An einem langen Holztisch machten der kleine Rocker Willy, der große Hippie Werni und zwei weitere Typen einen Schieber. Und da, am Ende des Tresens: Das war doch Polja, die schönste Rockerin der Stadt. Lange nicht gesehen. Merkwürdiger Name; die Legende besagte, daß ihr Vater Russe war, in die Schweiz geflohen aus irgendwelchen politischen Gründen und dann wieder verschwunden, vermutlich ebenfalls aus politischen Gründen. Polja war eine Attraktion mit ihren schwarzen Haaren, den dunklen Augen und dem undurchsichtigen Lebenswandel. Es |38| gab Zeiten, da konnte man sie Abend für Abend sehen in dieser oder jener Altstadtkneipe, und dann gab es Wochen und Monate, in denen sie überhaupt nicht auftauchte. Meist war sie allein; und wenn sie Gesellschaft hatte, so waren es   – ortsfremde Männer. Keiner im Städtchen wußte wirklich Bescheid über sie, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen war. Bekannt war, daß sie als Industriefotografin viel Geld verdiente und alle paar Wochen nach Dubai oder Düsseldorf oder Shanghai flog und daß sie in der übrigen Zeit frei war zu tun, was sie wollte. Berühmt war auch ihr Motorrad, eine schnörkellose 76er Harley-Sportster, feuerwehrrot und blitzblank wie eine Nähmaschine. Ihre biographischen Eckdaten aber, die gewöhnlich
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