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Munzinger Pascha

Munzinger Pascha

Titel: Munzinger Pascha
Autoren: A Capus
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sich eine blonde Locke aus dem bleichen Gesicht. Der Vater hat oft von ihnen erzählt: Über sechzig Mann haben hier Gold gewaschen von Mai bis September 1820.   Grimmige Kerle waren das, ausgediente Soldaten, landlose Bauern, heimatlose Handwerksgesellen. Sie arbeiteten für den Oltner Posthalter Frei, der die Rechte an der unteren Aare für zehn Jahre gekauft hatte. Einen Sommer lang |24| standen die Kerle zehn Stunden täglich bis zu den Hüften im Wasser, schaufelten goldhaltigen Sand aus dem Flußbett und siebten hauchdünne Goldplättchen heraus. Im Herbst wog Posthalter Frei die Ausbeute und beschloß, daß es zu wenig sei. Die sechzig Männer mußten gehen, nach Kalifornien oder sonstwohin. In Olten jedenfalls gab es für sie keinen Platz, und in der Aare verrotten seither die hölzernen Schleusen und Waschtische. Olten ist halt nicht Kalifornien! sagt der Vater.
    Werner Munzinger wirft Steinchen nach einem Holzbalken, der nicht allzu weit weg im Wasser steht. Er trifft nicht. Sein Bruder Walther trifft immer. Walther ist Soldat. Dabei ist er nur zwei Jahre älter als Werner. Vor einem Jahr hat er sogar ernsthaft geschossen, als er gegen die katholischen Kantone in den Sonderbundskrieg zog, und einen Säbel hat Walther erbeutet in offener Schlacht. Hoch zu Roß ist er in Luzern eingeritten, mitten im Generalstab an der Spitze der siegreichen Armee. Soldat kann ich nicht werden, denkt Werner. Erstens ist das der Bruder schon, zweitens treffe ich nicht so gut. Aber was dann? Nächstes Jahr ist Werner mit dem Gymnasium fertig, dann muß er nach Bern an die Universität und ein Studium anfangen. Theologie wäre schön; aber wenn er diese verstaubten Pfaffen nur schon sieht . . . Der Vater will, daß er Arzt wird. Werner hat Hunger. Hoffentlich ist bald Mittag. Großmutter macht die besten Pfannkuchen der Welt. Je näher Werner dem oberen Stadttor kommt, desto mehr Menschen begegnet er.
    »Sei gegrüßt, Werner! Gratulation dem Herrn Vater!«
    |25| Was haben die Leute nur? Warum schauen sie ihn alle an?
    »Herzlichen Glückwunsch!«
    Dort zieht sogar einer den Hut! Noch nie hat einer den Hut gezogen vor ihm. Und die Frau da will gar nicht mehr aufhören zu lächeln. »Allen Segen aus der Vaterstadt für den Herrn Papa!«
    Ach ja, der Vater. Gestern ist er in Bern zum Bundesrat gewählt worden. Erwartungsgemäß. Vater ist ein berühmter Mann. Schon vor dreißig Jahren war er freisinniger Revolutionär, mußte nach Italien ins Exil, kam zurück und jagte in Solothurn 1830 die Adligen zum Teufel. Die Geschichte hat Werner schon oft gehört. Auch jene vom reaktionären Tambourmajor, der aus Rache in ihr Haus eindrang und die Köchin zwang, Vaters liebsten Kanarienvogel zu braten. Politiker will Werner nicht werden. Das ist der Vater schon. Etwas Neues will er machen, etwas Schönes, Großes   – aber was? Im Frühling muß er nach Bern an die Universität. Er weiß nicht, was er studieren soll. Alles ist schon besetzt. Alles ist verbraucht und abgenutzt und langweilig.
    Auf der Brücke zum Oberen Tor schlägt Werner der Gestank des Stadtgrabens entgegen. Tief unten fließt ein dünner Bach die Stadtmauer entlang. Im Gebüsch links und rechts des Rinnsals verwesen Küchenabfälle und die Eingeweide geschlachteter Tiere; unter der Brücke liegt seit Wochen ein totes Pferd, dessen Rippen zwischen dem zerfetzten braunen Fell hervorgrinsen. Werner läuft durch die Hauptgasse zum Munzinger-Haus, als vor ihm eine Bürgerin ihren Nachttopf aufs moosbewachsene Pflaster schüttet. Schon immer |26| hat es gestunken in den dämmerigen Gassen dieses Untertanenstädtchens. Seit elf Generationen lebt Familie Munzinger in diesen Mauern. Seit vierhundert Jahren. Das genügt. Werner will nicht, sein Bruder Walther auch nicht. Natürlich hat Vater recht: Die Familie ist reich geworden im Schutz der Stadtmauern. Vierhundert Jahre haben die Munzingers hier gearbeitet in Frieden, Fleiß und Freudlosigkeit als Leinenweber, Drahtschmiede und Handelsleute. Eine ehrbare, angesehene Familie. Aber Werner will nicht. Das ist ihm zu langweilig. Wenn die Goldsucher hier keinen Platz haben, will auch er nicht bleiben.

|27| 4
    Draußen war es schon dunkel, und ich saß immer noch im Büro und hatte keine einzige Zeile über Dieter Zingg zustande gebracht. Zum x-ten Mal schrieb ich drei Wörter auf den leeren Bildschirm und löschte sie gleich wieder. Ich stand auf und holte Kaffee, schrieb fünf Wörter, sortierte die Büroklammern in meinem
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