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Munzinger Pascha

Munzinger Pascha

Titel: Munzinger Pascha
Autoren: A Capus
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leer. Ich kramte in der linken Schachtel nach den Dokumenten, die ich für das zweite Kapitel brauchen würde.
    So verging Monat um Monat. Kapitel reihte sich an Kapitel. Die linke Schachtel leerte sich zusehends, die rechte quoll schon fast über. Die verarbeiteten Dokumente ordnete ich bald nicht mehr sorgfältig ein, sondern |212| ließ sie achtlos über die Schreibtischkante fallen. Unterdessen ist ein Jahr vergangen, das Kaufhaus bietet wiederum unreife Kirschen an, und ich habe meine Geschichte zu Ende erzählt. Werner Munzinger und all seine Getreuen sind tot, meine linke Schachtel ist leer. Eigentlich müßte ich glücklich sein.
    Aber da ist noch etwas. Auf meinem Schreibtisch verstauben ein paar Blätter, einige seit vielen Monaten, andere erst wenige Wochen. Jedes einzelne Blatt habe ich irgendwann aus der linken Schachtel genommen, in der aufrichtigen Absicht, es in die Geschichte einzubauen und schließlich der rechten Schachtel zu übergeben. Aber die Gelegenheit dazu fand sich nie, und so blieb eins ums andere liegen. Was soll ich jetzt mit ihnen anstellen? In die linke Schachtel zurücklegen will ich sie nicht, denn leider bin ich ein Lehrerssohn und kann mit den Hausaufgaben erst aufhören, wenn alles erledigt ist. Über die rechte Tischkante wischen darf ich sie redlicherweise auch nicht, denn dieser Weg ist ausschließlich dem verarbeiteten Material vorbehalten.
    Dabei sind es gute Dokumente: Fotokopien von Briefen, Tagebüchern, alten Zeitschriften und Büchern, Zeichnungen und Fotos. Alle sind mir ans Herz gewachsen, über jedes einzelne habe ich gelacht oder nachgedacht oder wenigstens die Stirn gerunzelt, und immer wieder habe ich sie in diesem oder jenem Kapitel unterzubringen versucht. Aber es ging nicht. Sie erwiesen sich als widerspenstig. Manche bezichtigten einander der Lüge, andere stellten nur Fragen und gaben keine Antworten, und wieder andere lagen so weit abseits des großen Erzählpfades, daß sie abzuholen meine Ausdauer überfordert hätte.
    |213| Nehmen wir den Stapel rechts zwischen Tischkante und Schreibmaschine. Da behauptet ein Zeitgenosse, Werner Munzinger sei ein skrupelloser Ehrgeizling gewesen, dessen einziges Ziel der abessinische Kaiserthron war. Ein anderer unterstellt, Werner habe selbst Sklaven gehalten und sich am Sklavenhandel bereichert. Und diese Quelle hier schwört, daß er unersättlich Grundbesitz und Vieh zusammengerafft habe.
    Ich gestehe, daß mir diese Stimmen nicht in den Kram passen. Am liebsten hätte ich sie als Verleumdung taxiert und stillschweigend vom Tisch gewischt. Aber da ist die historisch verbürgte Tatsache, daß König Ismail nach Munzingers Tod eine Untersuchung über dessen Vermögensverhältnisse anordnete. War Werner ein Sklavenhändler, ein Blutsauger, ein skrupelloser Karrierist? Das kann und will ich nicht glauben, und zum Glück birgt dieser Stapel noch andere Zeugenaussagen. Da sind die Berichte von Afrikareisenden aus Deutschland, der Schweiz und Frankreich, die tief beeindruckt waren von Munzingers einfacher Lebensweise, seiner Klugheit und dem hohen Ansehen, das er bei den Abessiniern genoß. Da sind die Schriften Werner Munzingers selbst, in denen er immer mit Liebe und Respekt von den Menschen spricht. Und Gott sei Dank ist auch belegt, daß die königliche Untersuchung ergebnislos im Sande verlief.
    Oder dieser Stapel hier, auf dem der Aschenbecher steht: Der betrifft das Attentat auf Werner Munzinger vom 28.   September 1869, das in vorliegendem Roman mit keinem Wort erwähnt wird. An jenem Tag war er mit Oulette-Mariam und einer kleinen Eskorte von Keren nach Massaua unterwegs, als ihn aus dem Hinterhalt |214| vier Schüsse in Schulter, Arm, Hüfte und Gesäß trafen. »Der Mörder entfloh wie ein zweiter Wilhelm Tell«, schreibt Werner zwei Wochen später an seinen Bruder, »zum Glück habe ich nicht einen zweiten Geßler abgegeben.«
    Wer war der Täter? Ein eifersüchtiger Missionar namens Stella, wie manche behaupteten? Ein in seinem Nationalstolz verletzter Abessinier, der Munzinger die britische Expedition nach Magdala übelnahm? Werner glaubte ihn erkannt zu haben: »Es ist ein Mann, der keinen Grund hatte, mein Feind zu sein. Aber viele Leute glauben nun mal in ihrer Dummheit, daß ich ein Hindernis sei für ihre bösen Pläne . . .«
    Und dann ist da noch die zweifelhafte Geschichte von Werner Munzingers angeblichem Sohn, der im November 1875 einjährig gewesen sein soll und glücklicherweise seine Eltern nicht
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