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Mundtot nodrm

Mundtot nodrm

Titel: Mundtot nodrm
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Mikrofon schmetterte, leidenschaftlicher wurde, hob beschwörend beide Arme zum Himmel, als wolle er die vieltausendköpfige Zuhörerschar segnen. »Denkt daran«, appellierte er und es klang kämpferisch, als seine von Lautsprechern verstärkten Worte von den Außenwänden der Donauhalle und des Hotels Lago widerhallten, »nicht die, die uns mit immer höheren Steuern erdrücken wollen, uns vor den Wahlen ein Paradies versprechen und uns danach zur Hölle schicken, nicht die sind das Volk. Sondern wir.« Beifall brandete auf – genauso, wie es Steffen Bleibach beabsichtigt hatte. Sein rhetorisches Talent, sein geniales Spiel mit Stimme, Betonung und Gestik, signalisierte den Zuhörern, wann es Zeit war, seine Thesen und Meinungen, seine Forderungen und Zukunftsvisionen lautstark zu unterstützen. Noch einmal wartete er ab, bis der Beifall endlich leiser wurde. »Und denkt daran, liebe Freunde«, fuhr er dann mit sonorer Stimme fort, »die Zeit ist reif. Jetzt oder nie.«
    Über das kantige, braun gebrannte Gesicht des 38-Jährigen huschte jenes charmante Lächeln, das junge Frauen dahinschmelzen ließ und bei älteren Semestern dazu angetan war, ihn sich als Traumschwiegersohn zu wünschen. Innerhalb eines knappen Jahres hatte er es geschafft, die Massen zu mobilisieren, deren Unzufriedenheit zu bündeln, vor allem aber auf intelligente Weise zu artikulieren. Seit er, schlank, groß und sportlich, durch die Republik zog, um für seine Ideale einer besseren und gerechteren Welt zu kämpfen, dabei auch aneckte und provozierte, schienen ihm die Herzen der Menschen zuzufliegen. Nicht nur der weiblichen Zuhörer. Längst hatte er auch die Sympathien des weitaus größten Teils der männlichen Bevölkerung gewonnen. Nur so ließen sich die phänomenalen Umfrage-Ergebnisse für ihn und seine neu gegründete Partei erklären. »Wie damals der Obama«, lauteten deshalb die Kommentare, die nach seinen Kundgebungen allenthalben die Runde machten. Wer dies nicht unbedingt als gutes Omen deuten wollte, antwortete meist: »Zu viele Vorschusslorbeeren schaden. Auch ein Bleibach kann die Welt nicht von heute auf morgen umkrempeln. Obama hat das schmerzlich am eigenen Leib erfahren müssen.«
    Doch für derlei negative Gedanken war kein Platz an Abenden wie diesem, an dem in der Menschenmenge die kleinen orange-violetten Fähnchen geschwenkt wurden, dem Symbol der neuen ›Bürgerpartei‹, die sich schlicht ›DNA‹ nannte – der neue Anfang. Auch heute wiederholte sich, was seit Wochen der dreiviertelstündigen, von Emotionen geprägten Rede Bleibachs überall im Lande folgte: Ein vieltausendstimmiger Sprechchor, der wie die Forderung nach einer Zugabe klang, entfaltete sich. »Bleibach, Bleibach – das Volk ist jetzt wach«, skandierten die Menschen. In der Masse der Besucher, so hatte Bleibach bereits während seiner Rede zufrieden festgestellt, befanden sich sehr viele junge Leute.
    Und wieder war eine seiner Großveranstaltungen friedlich verlaufen. Dass es am Rande gelegentlich zu kleineren Demonstrationen gegen ihn kam, konnte er verkraften. Zwar hielten sich die Anhänger der etablierten Parteien noch immer zurück, doch dafür versuchten sich, je nach Ort und regionalen Strömungen, bisweilen Rechts- oder Linksextremisten, Gehör zu verschaffen. Bleibach ließ sich davon nicht beeindrucken und pflegte auch in solchen Fällen gelassen zu reagieren: »Ich akzeptiere jede demokratische Meinungsäußerung und Handlung, doch sollten Sie, liebe Zaungäste, bitte berücksichtigen, dass es sich hier um eine Veranstaltung der bürgerlichen Mitte handelt, von Menschen, die keine extremen Richtungen wünschen, von Menschen, die unabhängig sein wollen von jeglichen ideologischen Zwängen. Deshalb sind diese Menschen hierhergekommen. Denn sie, nur sie, sind das Volk.« Heute jedoch hatte er diese Formulierungen nicht benötigt. Dass in einer Universitätsstadt wie Ulm, deren studentische Einwohnerschaft besonders kritisch sein konnte, kein oppositioneller Protest zu spüren war, nahm er zufrieden zur Kenntnis. Ähnlich war es kürzlich in Tübingen gewesen. Er wertete dies als ein Zeichen dafür, dass ihn auch die überwiegende Mehrheit der Studenten akzeptierte.
    Diese Gedanken schossen Bleibach durch den Kopf, als er sich unter dem lang anhaltenden Beifall nach allen Seiten verbeugte und sich ein bisschen verlegen mit einer Hand durchs volle, dunkelblonde Haar strich, als wolle er den korrekten Sitz der Naturwellen prüfen.
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