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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot
Autoren: Gordon Reece
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Alles in Ordnung, Miss.«
     
    Ich musste mich sehr bemühen, damit Mum nichts merkte. Ich trug nur noch lange Ärmel, um die blauen Flecken zu verbergen, und Tücher, damit sie die Kratzer an meinem Hals nicht sah. Ich musste Schlafanzüge statt Nachthemden anziehen, damit sie nicht die gelben und violetten Flecken an meinen Schienbeinen und Oberschenkeln entdeckte, die wie die ersten Anzeichen einer schrecklichen Krankheit meine Haut sprenkelten.
    Ich wurde auch sehr geschickt darin, mich zu reinigen, bevor Mum von der Arbeit kam. Ich schloss mich oben im Badezimmer ein, wusch die Flecken aus Pullovern und Röcken, wenn sie mich wieder hingeworfen oder gegen eine schmutzige Mauer gedrückt hatten. Ich nähte sogar abgerissene Knöpfe an, nachdem sie mich an ihnen herumgezerrt hatten. Wieder und wieder wusch ich meine Schultasche gründlich mit Seife aus, wenn sie sie von innen mit Unrat beschmiert hatten. Zum Glück war ich immer ein bisschen zerstreut und vergesslich gewesen, so dass Mum mir bereitwillig glaubte, wenn ich mal wieder meine Frühstücksdose, Haarklammern oder Buntstifte verloren hatte.
    Am meisten fürchtete ich mich davor, dass sie mir Hassmails schicken könnten, durch die Mum alles herausfinden würde. Obwohl wir einander selten E-Mails geschrieben hatten, wusste ich, dass sie meine Adresse kannten, und hatte Angst, dass Mum eines Tages eine widerliche Nachricht voll kranker Beleidigungen öffnen würde. Also stand ich jeden Morgen vor ihr auf und schlich nach unten, um die Mails abzuholen. Allerdings waren die betreffenden Mädchen zu schlau, um sich auf Cybermobbing einzulassen. Sie wussten natürlich, dass Mum eine solche Nachricht zu ihnen zurückverfolgen könnte. Sie wollten ihren Spaß nicht aufs Spiel setzen.
    Nur einmal brachen sie ihr Schweigen im Internet. An einem Samstagmorgen öffnete ich eine Nachricht von einem Absender, den ich nicht kannte. Es war ein pornographisches Foto – ein Mann, der etwas Abscheuliches mit einer Frau tat –, ein so ekelhaftes Bild, das ich bis heute nicht daran denken mag. Es war noch auf dem Bildschirm, als Mum hinter mich trat und fragte, ob sie Nachrichten bekommen hätte. Ich konnte gerade noch rechtzeitig auf Löschen drücken.
(Nein, Mum, keine neuen Nachrichten.)
    Ich vermutete, dass sie am Abend vorher einen Bacardi Breezer zu viel getrunken und nicht mehr klar gedacht hatten. Es kam auch nie wieder vor.
    Doch trotz meiner Bemühungen merkte ich, dass Mum etwas ahnte. Ich spürte, wie sie die Fühler ausstreckte, in meinem Kopf vordringen und herausfinden wollte, was sich verändert hatte. Hätte sie in jenem Sommer nicht so viel mit dem Fall Jackson zu tun gehabt – ein Personenschaden, den Davis sträflich vernachlässigt und ihr dann zugeschoben hatte, damit sie ihn für die Verhandlung vorbereitete –, wäre sie sicher darauf gekommen.
    Ich zählte die Tage bis zum Ende des Schuljahres, damit mich die Sommerferien endlich –
endlich!
 – retteten.
     
    Ende Juli verließen Mum und ich das klaustrophobische graue
eheliche Heim
und fuhren für zwei Wochen in ein Ferienhaus im Lake District. Wir hatten herrliches Wetter. Wir wanderten in den Bergen, liehen uns Fahrräder und folgten den Wegen, die mit roten Farbflecken an Baumstämmen und Felsbrocken markiert waren. Wir gingen in den Seen schwimmen. In den hübschen Dörfern schauten wir uns Antiquitäten an und verschlangen in bibliotheksstillen Teestuben Scones mit Sahne und Marmelade.
    Abends kochten wir ausgefallene Mahlzeiten und lasen stundenlang. Mum arbeitete sich durch die Sammlung eselsohriger Liebesromane, die im Häuschen vorhanden war, und las mir die witzigsten Passagen laut vor. Ich studierte
Macbeth
, weil es Thema bei der Abschlussprüfung im nächsten Jahr sein würde, und notierte mir akribisch sämtliche Wörter, die ich nicht kannte, in ein eigens dafür mitgebrachtes Heft. Unwillkürlich stellte ich mir die drei Hexen mit den Gesichtern von Teresa, Emma und Jane vor – diese drei widernatürlichen Weiber hatten mein Leben ebenso beeinflusst wie die drei Hexen das von Macbeth. Doch welches Schicksal, so fragte ich mich, hielten meine drei Hexen für mich bereit? Während ich weiterlas, stellte ich überrascht fest, dass in Wirklichkeit nicht Macbeth, sondern
Lady Macbeth
den Mord an König Duncan in die Wege geleitet hatte. Daher fragte ich mich, ob Frauen angesichts dessen, was meine »besten Freundinnen« mir angetan hatten, wirklich das sanftere Geschlecht
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