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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot
Autoren: Gordon Reece
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dauerte lange, bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich den toten Spatz nach draußen in den Mülleimer bringen konnte.
    Danach war mir klar, dass sie gewonnen hatten. Da begriff ich, dass ich die Angst, den Schmerz und die Demütigung nicht länger ertragen konnte.
     
    An einem Donnerstagabend saß ich in meinem Zimmer und dachte ganz nüchtern über alles nach. Falls ich wie durch ein Wunder den Mut aufbringen könnte, sie zu verraten, würde es meine Situation dennoch verschlimmern; der Direktor würde sie in sein Büro holen, und sie würden alles abstreiten. Es gab keine unmittelbaren Beweise (niemand aus meiner Klasse würde sie verpetzen), so dass mein Wort gegen ihres stünde. Ohne Beweise würde der Direktor, der als kraftlos und halbherzig bekannt war und furchtbare Angst vor schlechter Publicity hatte, nichts unternehmen. Wenn ich alles erzählte, könnten sie mich mit noch größerer Entschlossenheit und Bosheit verfolgen. Ein Jahr vor der Prüfung war es zu spät, um noch die Schule zu wechseln. Außerdem wussten sie, wo ich wohnte.
    Sie könnten mir auflauern oder, schlimmer noch, ihre Hasskampagne zu mir nach Hause tragen, an den einzigen Ort, an dem ich mich noch sicher fühlte. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass Mum etwas Obszönes in unserem Briefkasten fände. Alles, aber nicht das.
    Es schien keinen Ausweg aus meiner elenden Situation zu geben. Oder nur einen einzigen.
     
    Ich plante es, während ich am Schreibtisch saß, als wäre es nur eine weitere Hausaufgabe. Ich beschloss, es in zwei Tagen zu tun, am Samstag, wenn Mum den großen Wocheneinkauf im Supermarkt machte. Meist fuhr ich mit ihr, doch diesmal würde ich Kopfschmerzen vorschützen. Nachdem ich es mir gründlich überlegt hatte, entschied ich mich für die beste Methode (den Balken in der Garage, an den Dad früher seinen Boxsack gehängt hatte; den dicken Gürtel meines Bademantels) und riss ein Blatt Papier aus einem Heft, um Mum einen Abschiedsbrief zu schreiben.
    Doch obwohl ich über eine halbe Stunde dort saß, fiel mir einfach nichts ein. Ich konnte es nicht über mich bringen, ihr von dem Mobbing zu erzählen, nicht einmal in einem Brief, den sie lesen würde, wenn ich schon tot war. Ich verstand nicht, weshalb ich mich ihr nicht anvertrauen konnte. Es gibt wohl Grenzen, die wir einfach nicht überschreiten können, so nahe wir jemandem auch stehen mögen, und Dinge, die uns so tief berühren, dass wir sie mit niemandem teilen können.
Vielleicht,
dachte ich,
sind es eben jene Dinge, die wir nicht mit anderen teilen können, die uns wirklich ausmachen.
    Ich hatte unbewusst vor mich hin gekritzelt und die totgeborenen Sätze im Kopf gewälzt. Dann warf ich einen Blick auf das Blatt und lächelte bitter, als ich die Zeichnung sah. Es war eine Maus. Um den Hals trug sie eine dicke Henkersschlinge.
    Ich wusste, dass ich schüchtern war; auch brach ich schnell in Tränen aus – bei der kleinsten Ermahnung oder Andeutung von Aggression zitterte ich und brachte kein Wort heraus. Doch es hatte monatelanges Mobbing gebraucht, um wirklich zu begreifen, was ich war:
eine Maus, eine menschliche Maus.
Gleichzeitig wurde mir klar, dass diese Zeichnung mehr sagte als alle Briefe, die ich zurücklassen konnte. Ich faltete das Blatt, schrieb
Mum
darauf und ließ es in der oberen Schublade, wo man es bald finden würde.
    So wäre mein Leben geendet, genau wie die Leben vieler anderer schwacher kleiner Mäuse vor mir – ich hätte an einer selbstgeknüpften Schlinge gebaumelt, meine Füße hätten immer kleinere Kreise beschrieben, meine Hände spastisch gezuckt –, hätten mir meine Peiniger am nächsten Tag nicht die grausamste Falle von allen gestellt.
    Ironischerweise rettete mir dieser bösartige Angriff das Leben.

7
    An den Angriff, bei dem ich hätte sterben können, erinnere ich mich weniger deutlich als an die anderen.
    Ich war in der Pause aufs Mädchenklo gegangen, weil ich den ganzen Morgen schlimme Unterleibskrämpfe hatte. Ich meinte, Teresa und Emma reden zu hören, doch als ich aus der Kabine kam, spielten nur ein paar jüngere Mädchen am Handtuchspender herum. Ich wusch mir die Hände. Das Wasser war kalt, und ich ließ es laufen, bis es wärmer wurde. Ich hatte gerade türkisfarbene Flüssigseife auf meine Handfläche gedrückt, als mich jemand brutal am Hals packte und nach hinten riss.
    Ich erhaschte einen Blick auf Janes gerötetes Gesicht, und die verschreckten Kleinen rannten davon, während man
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