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Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay

Titel: Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
Autoren: Peter Schwindt
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machte man hier sehr schnell mürbe. Wer einen Lehrer schlug, hatte ganz schlechte Karten. Dann kam man in die Fabrik. Das klang nicht weiter dramatisch, doch hinter vorgehaltener Hand erzählten sich die Kinder wahre Schauergeschichten von diesem Ort. Vor allem wohl auch deshalb, weil keines der Kinder jemals von dort zurückgekehrt war. Dann doch besser den Karzer. Länger als drei Monate verbrachte man dort nie, und danach gehörte man innerhalb der Heimhierarchie zu den ganz Großen. Vorausgesetzt natürlich, man überstand die drei Monate Einzelhaft in völliger Dunkelheit, ohne dabei verhaltensauffällig zu werden.
    »Drei!«
    Tess hatte es bisher geschafft, sich jeden Ärger vom Hals zuhalten. Sie hatte aber auch einen Vorteil: Sie war als Neugeborenes von ihren Eltern ausgesetzt worden und hier aufgewachsen. Das kommunale Waisenhaus Nr. 9 war ihr Zuhause, und sie kannte es in- und auswendig. Sie wusste, vor welchen Wärtern sie sich in Acht nehmen musste und welche einigermaßen in Ordnung waren. Im Gegensatz zu den anderen Kindern, die in der Werkstatt, der Küche oder gar der Wäscherei schufteten, hatte sie einen Platz in der Bibliothek ergattert. Das war die Belohnung dafür gewesen, dass sie im Gegensatz zu Jungs wie Egino gerne zum Schulunterricht gegangen war und dort sogar etwas gelernt hatte. Die Versagerquote dieses Heims, wie im Übrigen auch die aller anderen acht Einrichtungen, lag bei achtzig Prozent. Mehr als drei Viertel fanden nach ihrer Entlassung keine Arbeit, noch nicht einmal als Handlanger in einer der vielen Fabriken. Wer keine Arbeit hatte, der verdiente kein Geld. Und ohne Geld hatte man nur zwei Möglichkeiten: Entweder man lebte auf der Straße und wurde von den Suppenküchen durchgefüttert. Oder man trat einem der vielen Boxvereine bei. Das war der Weg, der den Jungs offenstand. Für Mädchen gab es nur eine viel schlimmere Möglichkeit. Das jedenfalls predigte Visby immer wieder, vor allem wenn er ein Mädchen bestrafte, was ihm offensichtlich mehr Spaß bereitete, als Jungs wie Egino zu züchtigen.
    »Vier!«
    Tess war dreizehn, in einem Jahr würde sie die Schule und somit das Heim verlassen müssen, um sich irgendwo eine Arbeit zu suchen. Dabei sah sie aber relativ gelassen in die Zukunft. Sie konnte nicht nur lesen und schreiben, sondernbeherrschte auch das kaufmännische Rechnen mit Dreisatz und Buchführung. Zudem war sie anpassungsfähig, konnte sich ausdrücken und war auch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Selbst Direktor Visby behandelte Tess mit Respekt und erwähnte immer sie, wenn er ein leuchtendes Beispiel für den Erfolg seiner Philosophie benötigte.
    »Fünf.«
    Es klatschte ein letztes Mal und Egino stöhnte ein klein wenig auf. Direktor Visby machte ein zufriedenes Gesicht. Der schlaksige Bursche mit dem wenig intelligenten Gesicht richtete sich auf und zog die Hose hoch. Er verneigte sich vor dem Direktor, bedankte sich für die Strafe und humpelte die Treppe hinab, um sich neben Tess in die Reihe zu stellen. Sie sah aus den Augenwinkeln heraus, wie er zu grinsen versuchte, und hoffte, dass er wenigstens bis zum Betreten des Gebäudes den Mund hielt. Er tat ihr den Gefallen, aber nur, bis sie in der großen Eingangshalle waren.
    »Na, wie habe ich das gemacht?«, sagte Egino leise. Sein Gesicht war bleich. Wie immer vesuchte er zu tun, als sei er gegen die Prügel immun, aber die blutbefleckte Hose sagte etwas anderes.
    »Du bist ein Idiot!«, zischte sie. »Wenn du dich noch einmal bei einer Bestrafung so selbstgefällig aufführst, landest du im Karzer. Du kannst froh sein, dass Visby es bei den fünf Hieben beließ.«
    Egino verzog das Gesicht zu etwas, was wohl ein Lächeln sein sollte. »Visby kann mir mal den Buckel runterrutschen.« Er drückte Tess heimlich etwas in die Hand.
    »Was ist das?«, flüsterte sie ärgerlich. »Etwa wieder einLiebesbrief? Wenn du glaubst, dass ich deinen Hintern verarzte, bist du schief gewickelt.«
    Eginos Blick verfinsterte sich. »Tu nicht immer so, als würdest du über den Dingen stehen! Weißt du, was die anderen von dir denken? Dass du Visby in den Arsch kriechst!«
    »Das tu ich nicht!«, rief sie empört.
    »Das weißt du. Und das weiß ich. Aber was ist mit dem Rest von uns? Schau dich doch an. Wir alle laufen hier herum wie der Abschaum der Welt. Nur du siehst in dieser Uniform aus, als hätte man sie für dich maßgeschneidert. Ich wette, sie kratzt noch nicht einmal. Deine Haare sind geschnitten und
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