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Mordlast

Mordlast

Titel: Mordlast
Autoren: Alexander Guzewicz
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Mann brachte uns nach Österreich. Er hatte Freude daran, zu sehen, wie wir litten. Er kannte uns. Dann ist es so, wie wenn man eine Fernsehserie guckt und miterlebt, wie sich das Schicksal der Schauspieler langsam fügt. Das ist viel besser, als sich immer wieder in neue abgeschlossene Geschichten einzuleben. Er hatte es irgendwie geschafft, dass der ganze Trupp mit zu dieser Baustelle nach Österreich gekommen ist. Vielleicht, weil bei uns keiner abgehauen ist wie bei anderen Kapos. Ich weiß es nicht.«
    Davídsson wusste, dass er den Namen von Alfons Propstmeyer absichtlich nicht aussprach. Vielleicht konnte er es auch nicht.
    »Und dann wurde er befördert. Er war glücklich und mit sich zufrieden. So zufrieden ...«, Colbert lachte zynisch auf, »dass er an diesem Tag gleich drei Männer umgebracht hat.«
    »Ihr Vater war auch dabei«, sagte Engbers.
    »Ja. Meinen Vater auch.«
    »Sie wurden zum Spiegelgrund in Wien gebracht.«
    »Sie haben Versuche mit mir gemacht. In ihren Augen war ich gestört. Schwer erziehbar. Asozial.«
    »Sie haben überlebt.«
    »Ich wünschte manchmal, dass es nicht so wäre.«
    Für einen Moment schwiegen sie.
    »Ich war dort fast drei Jahre. Ich habe die Schreie der anderen Kinder gehört, die sie auch gequält haben. Es schien ihnen immer wieder Freude zu machen, die Kinder leiden zu sehen. An viele Dinge, die da passiert sind, kann ich mich nicht mehr erinnern. Das haben sie mit ihren Experimenten geschafft, die sie an uns durchgeführt haben.« Er nahm einen Schluck von dem Kaffee, der mittlerweile aufgehört hatte, zu dampfen.
    »Auch das habe ich überlebt«, sagte er schließlich. »Dann kam ich wieder hierher. Nach Berlin zu meinen Pflegeeltern. Ich bin ausgerissen und sie haben mich in dieses Heim gebracht. Nach Wilmersdorf.«
    »Wir waren dort.« Engbers goss Kaffee in die leeren Tassen nach.
    »Sie haben versucht, aus mir einen guten Nationalsozialisten zu machen. Morgens mussten wir in unseren Uniformen zum Frühappell. Bevor wir nicht das gemacht hatten, was sie von uns verlangt haben, gab es nichts zu essen.« Er sah in die Runde – in zwei versteinerte Gesichter.
    »Sie haben es fast geschafft. Als ich von dort weggekommen bin, konnte ich kaum noch Französisch. Sie haben tatsächlich geschafft, dass ich meine Muttersprache verlernt habe.«
    »Und dann kamen Sie zu einer besseren Pflegefamilie.«
    »Ja. Es war eine französische Soldatenfamilie aus Südfrankreich. Aber ich war schwierig. Ich will das nicht entschuldigen, aber ich habe nie gelernt, was echte Liebe ist. Was es für ein Kind bedeutet, in den Arm genommen zu werden. Ich habe so etwas nur sehr kurz gespürt und dann lange nicht mehr.« Er dachte einen Moment nach. »Ich war deshalb sehr lange hart zu meiner Frau. Sehr hart und kalt. Ich konnte meine Gefühle nicht zeigen, auch nicht gegenüber meinem Sohn. Er hat sehr darunter gelitten und ich auch. Ich habe es ihm oft angesehen. Meine Ehe habe ich an den Abgrund geführt und nur der Liebe und dem Verständnis meiner Frau war es zu verdanken, dass wir nicht abgestürzt sind. Ich habe den Schmerz nie vergessen können und dank mir werden sie es sicher auch nicht. Ich habe versucht, es zu ändern, aber es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen.«
    Colberts Gesicht wirkte jetzt älter.
    Man sah in den Falten, die sich um seine Augen und auf der hohen Stirn gebildet hatten, dass er das, was er sagte, auch so empfand.
    Es war nicht wie bei anderen, um die Ermittler zu erweichen, mit einer erfundenen Geschichte, die alles erklären sollte. Er war gezeichnet von dem, was er erlebt hatte.
    Davídsson sah es erst jetzt. Im kahlen Licht, das über ihnen hing und das aus jedem Gesicht die Wärme nehmen konnte.
    »Warum Bernd Propstmeyer?«, fragte Engbers.
    »Ich wusste damals nicht, wie er hieß. Wie der Mörder meiner Eltern hieß.«
    »Aber Sie wollten es wissen«, hakte Engbers nach.
    »Ja. Ich wollte dem Mann in die Augen sehen, der meine Eltern auf dem Gewissen hatte. Irgendwie habe ich mir davon Genugtuung versprochen. Eine Art Befriedigung. Ich hatte nicht vor, ihn umzubringen. Ich habe mich auf die Suche gemacht und bin auf den Berliner Denkmalschutzverein gestoßen. Der Vorstandsvorsitzende des Vereins war schon alt und starb irgendwann und dann stellte sich die Frage der Nachfolge. Es war überhaupt nicht schwierig, den Posten zu bekommen. Keiner wollte die zusätzliche Arbeit machen, die damit verbunden ist, und ich war außerdem noch Architekt und
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