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Mordlast

Mordlast

Titel: Mordlast
Autoren: Alexander Guzewicz
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könnte mir vorstellen, dass es noch Unterlagen gibt. Ich befürchte jedoch, dass das Kind der Familie Moïra in eine sogenannte Kinderfachabteilung gekommen ist, was nichts anderes bedeutet, als dass das Kind Opfer der schrecklichen Kindereuthanasieverordnungen geworden sein könnte.«
    »Kümmern Sie sich darum?«, sagte Davídsson in die plötzlich eingetretene Stille. Er wusste, dass er die Büchse der Pandora geöffnet hatte. Er erinnerte sich an den griechischen Mythos von Zeus, der die Büchse Pandora anlässlich ihrer Vermählung mit dem Titan Epimetheus geschenkt hatte und ihr gleichzeitig das Versprechen abgenommen hatte, sie nie zu öffnen. Die Neugierde war jedoch stärker gewesen, und von da an kam alles Schlechte über die Welt.
     
    Alles Schlechte, ging es Davídsson durch den Kopf. Er wusste nichts über den Spiegelgrund und seine Geschichte, aber als er Nachforschungen darüber anstellte, wurde ihm bewusst, dass das alles Schlechte war.
    Der Spiegelgrund war   1940   eingerichtet worden und hatte viele wohlklingende Namen, die alle davon ablenken sollten, was dort wirklich geschah. Es gab offensichtlich zwei Kategorien für die Kinder, die dort eingeliefert wurden und die vom   Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden   in Berlin festgelegt wurden: Die Kinder, die eine ›Behandlung‹ erhalten sollten, und die, die unter ›Beobachtung‹ standen. Ersteres bedeutete nichts anderes als die Tötung der Kinder, Beobachtung hieß, dass man noch damit warten sollte.
    Im April   2002   bestattete man Gehirne und Nervenstränge von über   780   Opfern auf dem Wiener Zentralfriedhof.
    Davídsson ging zurück ins Wohnzimmer und sah, dass der CD-Player eingeschaltet war. Er fragte sich, ob er überhaupt ein Lied gespielt hatte, seitdem er ihn eingeschaltet hatte. Er hatte den ganzen Abend an seinem Schreibtisch gesessen, um in Büchern aus der BKA-Bibliothek und im Internet zu recherchieren.
    Jetzt stand er vor der großen Fensterfront und starrte in ein großes schwarzes Loch. Vor seinen Augen schwebte dichter Nieselregen auf den unbebauten Platz vor seinem Fenster, der fast wie ein Gespenst in der Dunkelheit wirkte. Die Scheiben wurden langsam feucht und beschlugen schließlich.
    Am Anfang, als er den Fall übernommen hatte, war ihm die Tragweite und die damit verbundenen menschlichen Tragödien nicht bewusst gewesen. Er hatte nicht einmal geahnt, dass er so tief in die Geschichte eines fremden Landes eindringen würde, von dem er eigentlich viel zu wenig wusste.
    Es kam ihm plötzlich fast albern vor, dass ausgerechnet ein Isländer in der dunklen Vergangenheit herumstocherte und Verbindungen offenlegte, von denen zuvor offenbar niemand gewusst hatte.
     

19
     
    D ie Kantine war relativ gut besucht, obwohl es eigentlich noch zu früh für eine Mittagspause war. Die Frauen, die hinter dem Tresen arbeiteten, kannten ihn, weil er sie immer freundlich grüßte und nicht, wie manche Kollegen, arrogant ignorierte.
    Er hatte sich für ein Fischfilet und Bratkartoffeln entschieden. Die Klimaanlage in der Kantine sorgte dafür, dass man etwas Fettiges essen konnte, ohne unter der Hitze zu leiden, die am Morgen wieder zurückgekehrt war.
    Am Nachbartisch unterhielten sich Kollegen, die wohl im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum arbeiteten. In der täglichen Lagebesprechung hatte es offensichtlich eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Kollegen vom Verfassungsschutz und dem Zollkriminalamt gegeben. Jetzt diskutierten sie in der Kantine weiter.
    Davídsson dachte an Martina Krug und ihre Vorliebe für diese Kollegen.
    Wallner hatte ihn wieder angerufen und sie hatten eine Telefonkonferenz mit Engbers geschaltet.
    Wallner hatte über Nacht ganze Arbeit geleistet.
    Er schien jetzt hochmotiviert zu sein, und das, obwohl es ihm nicht leicht gemacht wurde.
    Das Kind der Familie Moïra war namenlos und geschlechtslos geblieben, aber es hatte den Wahnsinn im Spiegelgrund überlebt und war von dort in ein Umerziehungsheim nach Berlin-Wilmersdorf geschickt worden.
    Dort hatte sich die Spur aus Wallners Sicht verloren, aber Davídsson glaubte, dass sie für ihn noch nicht kalt war. Ein Kriminalanalyst des Bundeskriminalamtes hatte auf dem eigenen Hoheitsgebiet andere Möglichkeiten als ein Polizist aus einem anderen Land.
    Er hatte sich mit Engbers zu einer Fahrt zu diesem Umerziehungsheim verabredet und Wallner versprochen, ihn auf dem Laufenden zu
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