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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates
Autoren: Sascha Berst
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seiner rechten Hand fiel mir ein weißer Kreis auf, der um den Mittelfinger lief. Dort hatte ein Ring das Licht der Sonne abgeschirmt. Darüber verliefen zwei kleine Striemen.
«Wo ist Perianders Ring?», fragte ich den Vater. «Hatte er ihn nicht mehr bei sich?»
«Der Ring? Nein. Ich weiß nicht», antwortete er. Es waren die ersten Worte, die er an mich richtete. «Er wurde uns so gebracht, wie er hier liegt. Wir haben ihn nur gewaschen und das Gewand gewechselt. Sonst haben sie uns nichts gegeben.»
«Was war es für ein Ring?», fragte ich. «War er wertvoll?»
«Ja, das war er», antwortete der Vater, «wir haben ihn nach seinem großen Sieg anfertigen lassen, ganz aus Gold. Auf seiner Oberseite ist eine schwarze Perle eingelassen, von einem Lorbeerkranz umfasst. Er trug ihn Tag und Nacht.»
«Kennst du noch den Namen des Goldschmieds, der den Ring gefertigt hat?», wollte ich wissen. Bevor Perianders Vater antworten konnte, fiel mir die Antwort aber selbst ein. Wie hatte ich nicht daran denken können? Hatte sich nicht Raios, mein Onkel und Schwiegervater, wochenlang damit gebrüstet, kein anderer als er habe den Ring für den Olympiasieger schmieden dürfen? Eine große Ehre, die ihn indessen nicht davon abgehalten hatte, Perianders Familie über den Wert des Schmuckstücks zu täuschen und einen viel zu hohen Preis zu verlangen. Er tat das immer. Es war sein größtes Vergnügen.
«Er hieß Raios», antwortete der alte Mann. «Sein Geschäft ist beim Hephaistos-Tempel, gleich im Viertel der Schmiede.»
«Ich kenne ihn», sagte ich, ohne auf die Art meiner Bekanntschaft mit Raios näher einzugehen. «Was hat Periander gestern Abend gemacht?»
«Ich weiß nicht genau. Ich dachte, er wäre vielleicht im Stadion. Das ist in der Nähe des Tores, wo …» Dem Alten versagte die Stimme. Eine Träne lief ihm dünn über das gegerbte Gesicht. Er rang um Fassung und drehte sich weg.
«Wer waren Perianders Freunde?», fragte ich weiter.
«Er hatte viele», erwiderte der Vater mit einem Anflug stolzer Erinnerung, «oft traf er sich mit Charmides oder mit Aristokles und seinem Bruder Glaukon. Das sind Verwandte meines Freundes Kritias, junge Männer. Er war wohl auch viel mit diesem Sokrates unterwegs. Du kennst ihn?»
«Ja, natürlich», entgegnete ich. Wer kannte ihn nicht?
Die Tür ging auf. Ich befürchtet schon, Perianders Mutter würde wieder in das Zimmer stürzen, beruhigte mich aber, als ich stattdessen einen kleinen, wohl dreißig Jahre alten Mann mit strengen Zügen und stechendem Blick eintreten sah, der in seiner Rechten einen ganz besonderen Stock trug: einen Wanderstock, um dessen Ende sich eine kunstfertig geschmiedete Schlange wand, so wie sich um seinen Besitzer die Legenden rankten. «Hippokrates von Kos», stellte er sich vor, obwohl dies nicht nötig war, «man hat mich kommen lassen. Bist du Nikomachos, der Herr der Toxotai?»
Ich bejahte und verneigte mich tief vor diesem Mann, von dem man sagte, er habe sein Handwerk vom Gott der Heilkunst selbst erlernt. Ich zeigte auf den Leichnam. Hippokrates runzelte die Stirn. Tiefe Furchen liefen senkrecht seine Wangen herunter. Er drehte sich zu Perianders Vater.
«Du bist der Vater dieses Jungen?» Der Mann nickte.
«Ich musste deiner Frau ein starkes Mittel zur Beruhigung geben. Sie braucht dich jetzt. Bitte sieh nach ihr.»
Perianders Vater nickte ein zweites Mal stumm und ging hinaus. Und so gelang es Hippokrates, dem alten Mann eine Aufgabe zu geben und zugleich dafür zu sorgen, dass wir ungestört waren.
«Was soll ich tun?», fragte Hippokrates. «Der junge Mann ist tot.»
«Ich weiß», antwortete ich verlegen, «ich möchte wissen – wenn das geht –, wie er gestorben ist.»
«Das ist gut», antwortete Hippokrates unverständlicherweise und hieß mich, Perianders Leiche zu entkleiden, während er einem mitgebrachten Beutel einige Werkzeuge entnahm. Ich wagte nicht, mich zu widersetzen, aber meine Arbeit erwies sich als ungewöhnlich schwer. Perianders Körper war völlig steif und schien viel mehr zu wiegen, als man dies bei diesem kaum zwanzigjährigen Läufer angenommen hätte. Obwohl es in diesem Zimmer angenehm kühl war, geriet ich ins Schwitzen und hätte bei meinen ungeschickten Versuchen, Periander auszuziehen, beinahe sein Leichengewand zerrissen. Ich war völlig außer Atem, als der Olympiasieger schließlich nackt vor mir lag.
Der Körper sah aus wie in Stein gemeißelt. Rippen, Muskeln und Sehnen zeichneten sich unter seiner
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