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Mord an der Mauer

Mord an der Mauer

Titel: Mord an der Mauer
Autoren: L Keil
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dem mörderischen Status quo nicht abfinden wollten.
    Die Freude, die im November 1989 explodierte, war eine allgemeine – nur hartgesottenen DDR-Apologeten gelang es, sich nicht von ihr anstecken zu lassen. Dieser glückliche Moment überlagert jedoch in der Erinnerung die Zeit, die ihm voranging. Am Ende ist es gut ausgegangen, und der bilanzierende Rückblick ordnet die Geschichte der deutschen Teilung so an, dass mit ihrem fast zwangsläufigen Ende ein großer, nie erloschener Traum aller Deutschen in Erfüllung gegangen scheint. Doch das stimmt leider gar nicht. Nicht mehr viele Bürger hatten vor dem Herbst 1989 den Skandal der Teilung auf ihrer Agenda, nur wenige empfanden es als schmerzhaft und furchtbar, dass mitten in Deutschland an einer Grenze, die reine Willkür darstellte, auf Menschen geschossen wurde. Die Teilung war kein großes öffentliches Thema mehr. Die Jahre vor ihrem Ende zeigten sich – nicht nur, aber vor allem im Westen des Landes – geprägt von einer heute kaum noch begreifbaren Trägheit der Herzen. Man kann und soll die große Erzählung von der Wiedervereinigung nicht in Erinnerung rufen, ohne auch an die langen Jahre der Hartherzigkeit zu denken.
    Das Schicksal Einzelner kann da lehrreicher und eindrücklicher sein als das große Gemälde oder der historische Rapport, der mit Zahlen, Statistiken und großen Staatsereignissen aufwartet. Peter Fechters Leben und Tod ist solch ein Schicksal. Er ist, als er am 17. August 1962, wenige Tage nach dem ersten Jahrestag des Mauerbaus im Berliner Todesstreifen im Alter von 18 Jahren erschossen wird, ein junger Mann wie viele: Maurergeselle, fleißig, gesellig, ein guter Sohn und Kollege. Mit Kritik am Regime ist er – wie so viele, die in ihm nicht heimisch geworden sind – kaum aufgefallen. Und doch wagt er, zusammen mit einem Arbeitskollegen, ohne große Vorbereitungen und im entscheidenden Moment spontan den Versuch, in den Freiheit verheißenden Westen der Stadt zu fliehen. Peter Fechters Schicksal macht deutlich, dass es ganz normale, oft politisch gar nicht ambitionierte Menschen waren, denen das SED-Regime das Leben vergällt hat. Weg, nur weg: Das war die Haltung, die in der verkorksten DDR gezüchtet wurde, die ihre Bürger an Entfaltung hinderte und sie um eine selbstbestimmte Zukunft betrog. Die Misere des deutschen Kommunismus war auch eine politische. Ebenso aber erwies sie sich als eine ganz alltägliche. Nach allem, was man weiß, war Peter Fechter am Ringen der Systeme nicht interessiert. Er war nur nicht bereit, ein Leben lang das karge Brot der Unfreiheit zu essen. Dafür musste der arglose junge Mann sterben, den die SED-Presse nach seinem Tod als »Banditen« verhöhnte.
    Gewiss, es gibt eine Gedenksäule an der Stelle, an der Peter Fechter kaum drei Meter von West-Berlin entfernt verblutete. Aber anders als Konrad Adenauer, Walter Ulbricht, Willy Brandt, Erich Honecker und Michail Gorbatschow, anders auch als Benno Ohnesorg oder Rudi Dutschke gehören er und andere Mauertote nicht zu den historischen Personen, die in das Eingang gefunden haben, was man kollektives Gedächtnis nennt. Wohl ist das Foto, das den Abtransport des Sterbenden zeigt, halbwegs zur Ikone geworden, vermutlich seiner an den toten Christus erinnernden Ikonografie wegen. Aber mit dem Bild des sterbenden Ohnesorg, dem eine junge Frau beispringen will, kann es die Fotografie an Bekanntheit nicht aufnehmen. Fast als störten sie ein schönes Bild, stehen die an der Mauer Ermordeten in den hinteren Reihen des Erinnerns und Gedenkens. Und es lohnt daran zu erinnern, welcher Hass diesen Toten zuweilen entgegengebracht wurde – und zwar nicht nur von der SED und der von ihr gesteuerten Presse, sondern leider auch im Westen. Mehrfach wurde, wie in diesem Buch dargestellt, in den Jahren vor und auch noch nach 1989 das provisorische Peter-Fechter-Mahnmal an der Mauer beschädigt und zerstört – offensichtlich von Menschen, die im Gedenken an ermordete Mauertote einen illegitimen, revanchistischen Akt der Sozialismus-Schändung sahen. Es gab auch im Westen Zeiten, in denen um des großen Ganzen Einzelschicksale nicht zählten und unschuldig Getötete mit einiger öffentlicher Duldung verhöhnt werden konnten.
    Doch so war es nicht immer gewesen, wie dieses Buch zeigt. Es gab eine heute fast vergessene Zeit, in der zumindest große Teile der West-Berliner Bevölkerung mit spontaner, aus dem Herzen kommender Empörung darauf reagierten, dass mitten in Berlin
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