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Mord an der Mauer

Mord an der Mauer

Titel: Mord an der Mauer
Autoren: L Keil
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Gerichtsmedizinischen Instituts noch existiert, findet sich darin außer dem Einlieferungsdatum »18. August 1962«, der Freigabe des Leichnams vier Tage später und dem Vermerk »Verblutung nach außen, Beckendurchschuss« nichts Verwertbares.
    Die Ermittler schreiben den inzwischen pensionierten Obduzenten Otto Prokop an. Doch der gebürtige Österreicher, Wahl-DDR-Bürger und international renommierte Experte, antwortet, die »Sektionsprotokolle von Grenzzwischenfällen« seien »in der Regel aus unserem Institut abgeholt worden, einschließlich der Durchschläge«. Nach Aktenlage ist das falsch: Erst 1975 sind die Obduktionsberichte aus den Jahren vor 1965 vernichtet worden, und zwar wegen Platzmangel, wie die Institutssekretärin und ein Oberarzt übereinstimmend bezeugen. Überraschend genau erinnert sich Prokop dafür an Fechters Verletzungen, er schreibt: »Bei dem Ausblutungsgrad wäre eine Operation in keinem Fall mehr erfolgreich gewesen. Unseres Erachtens muss die Arteria iliaca externa getroffen gewesen sein. Da es aus der Ausschussöffnung erheblich geblutet hat, ist die linke Arteria betroffen gewesen. Auch die Harnblase dürfte verletzt gewesen sein.« Prokop gibt, auch ohne schriftlichen Obduktionsbefund, nach mehr als drei Jahrzehnten eine klare gutachterliche Äußerung ab: »Der Betroffene war durch die Schussverletzung tödlich, meines Erachtens unrettbar verletzt.«
    Damit halbiert sich der Kreis der Tatverdächtigen. Wenn nämlich Fechters Verletzung unweigerlich zu seinem Tod hat führen müssen, dann können sich die seinerzeit zuständigen Offiziere Gelhar, Leistner und Schäfer nicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht haben, obwohl sie ihn fast 50 Minuten vor sich hinbluten ließen. Das ist juristisch korrekt, den Angehörigen und der Öffentlichkeit aber kaum vermittelbar. Davon jedoch dürfen sich die Strafverfolger nicht beeinflussen lassen – sie müssen streng nach Recht und Gesetz arbeiten. Deshalb konzentrieren sich ihre Ermittlungen auf die drei noch lebenden der vier Schützen. Doch wer hat die tödliche Kugel abgefeuert? Prokops Erinnerungen sind zu vage, um einen konkreten Schusskanal zu rekonstruieren; da es 1962 keine ballistische Untersuchung gegeben hat, kann auch auf diese Weise keine Zuordnung des entscheidenden Schusses vorgenommen werden. Die Ermittler entschließen sich, dem Bericht der Grenztruppen zu glauben. Weil Siegfried Buske nur einen einzigen Schuss abgegeben hat, unmittelbar nachdem er die beiden Flüchtlinge im Sperrgebiet gesehen hat, fällt er als Todesschütze aus – denn die letale Kugel hat Fechter unzweifelhaft erst Sekunden nach dem ersten Schuss getroffen, als er bereits schockstarr vor der Mauer stand. Es bleiben also mit Friedrich und Schreiber nur zwei potenzielle Angeklagte, da Schönert tot ist.
    Als unerwartet schwierig erweist es sich, Fechters Freund und Fluchtgenossen Helmut Kulbeik zu befragen. Nach seiner Scheidung hat er nie wieder zurückgefunden in ein normales Leben. Arbeitslosigkeit, Krankheiten und Alkoholismus sind die Folgen. Einmal nur trifft er sich mit seiner Exfrau und seinem Sohn, doch zu einer Versöhnung kommt es nicht. Auch die Ladung der Polizei zur Vernehmung am 29. Mai 1993 ignoriert er; erst auf nachdrückliche Bitten findet er sich Anfang August bereit, seine laufende Umschulung in Oberhausen zu unterbrechen und nach Berlin zu kommen. Zur Sache jedoch hat Kulbeik wenig beizutragen: Seine Aussage enthält nichts, was über die Vernehmung am 21. August 1962 hinausgeht. Als Belastungszeuge im Prozess gegen die mutmaßlichen Schützen ist er ungeeignet. Deshalb müssen die Ermittler ihren Fall auf andere Aussagen und auf Indizien stützen.
    Die Beschuldigten machen es ihnen nicht besonders schwer. Zwar behauptet Rolf Friedrich in seiner Vernehmung, er habe nicht auf Fechter geschossen, sondern auf die Mauer. Ob seine Kugeln aber abgeprallt und als Querschläger weitergeflogen seien, wisse er nicht. Außerdem habe sich seine Hand im entscheidenden Moment verkrampft: »Ich habe meinen Finger gar nicht mehr vom Abzug gekriegt.« Deshalb und weil die Kalaschnikow auf Dauerfeuer eingestellt gewesen sei, habe er so viele Patronen verschossen. Das sind erkennbar Schutzbehauptungen, durch die Fechters Tod als tragischer Unfall erscheinen soll. Auf Nachfrage gibt Friedrich jedoch zu, dass es den vorgeschriebenen Warnruf »Stehen bleiben, oder wir schießen!« nicht gegeben hat. Zugleich beschuldigt er seinen
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