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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal
Autoren: Colin Dexter
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unter drei Schichten Tapete, aber noch deutlich lesbar,
sahen sie zwei Reihen untereinander angeordneter Striche: rechts acht, der
unterste etwa in ein Meter zehn Höhe, der oberste bei ein Meter fünfzig,
jeweils mit dem genauen Datum daneben, links nur zwei Striche (aber vier
Datumsangaben), was sicherlich daran lag, daß ein Teil des Putzes hier
weggebröckelt war und damit auch die Striche an dieser Stelle verschwunden
waren.
     

     
    Einen Augenblick lang stand
Morse in dem jetzt schnell dunkel werdenden Flur und blickte beinahe
ehrfürchtig auf die Wand.
    «Holen Sie eine Taschenlampe,
Lewis, und ein Maßband!»
    «Aber woher...?»
    «Irgendwoher. Eine Taschenlampe
hat schließlich jeder.»
    «Außer Ihnen, Sir.»
    «Sagen Sie einfach, Sie wären
von der Gasgesellschaft und hätten in Nummer zwölf ein Leck entdeckt.»
    «Aber das Haus hier hat gar
keinen Gasanschluß.»
    «Dann denken Sie sich eben
etwas anderes aus.»
     
     
    Als Lewis zurückkam, fand er
Morse noch immer in die Betrachtung der Größenmarkierungen vertieft. Im Licht
der Taschenlampe war jetzt deutlich zu erkennen, daß alle eventuellen Striche,
die sich weiter unten noch befunden haben mochten, verloren waren. Dafür
entdeckten sie jetzt aber im Schein der Lampe, daß zwischen den beiden
Markierungsgruppen, etwas mehr nach rechts hinüber und deshalb wohl zur zweiten
Gruppe gehörend, ein Buchstabe an der Wand geschrieben stand.
    Der Buchstabe «D»!
    «D» für Daniel?
    Das hieße dann, daß die Striche
rechts die jeweilige Größe von Daniel Carrick bezeichnet hätten und die linken
dann entsprechend die von Joanna.
    «Denken Sie, was ich denke,
Lewis?» fragte Morse.
    «Ich glaube, ja, Sir»,
antwortete Lewis vorsichtig.
    «Joanna hat 1842 geheiratet»,
Morse sprach mehr zu sich selbst als zu Lewis, «und das paßt ja auch gut, denn
das letzte Datum hier ist der 1. Januar 1841, eingetragen auf gleicher Höhe wie
die Markierung von 1840 — offenbar ist sie in diesem letzten Jahr zu Hause
nicht mehr gewachsen. Und ihr jüngerer Bruder Daniel hat sie so allmählich erst
eingeholt und dann überholt. Ab 1836 waren beide gleich groß, und 1841 war er
schon um etliche Zentimeter größer.»
    Lewis nickte. «Und man würde
die Größenmessung auch in dieser Reihenfolge erwarten, nicht wahr, Sir? Erst
Joannas, und dann, rechts davon, die ihres Bruders.»
    «Ja.» Morse nahm die runde
Kapsel zur Hand und zog das Meßband der Länge nach heraus. «Nur fünf Fuß»,
bemerkte er.
    «Damit kommen wir aber hin»,
sagte Lewis.
    Er hatte recht. Während Morse
das obere Ende des Meßbandes an die Eintragungen von 1840/41 hielt, kniete
Lewis unten auf dem schmuddeligen Steinfußboden und richtete den Strahl der
Taschenlampe auf die Längenangabe. Nein, ein längeres Maßband war unnötig, der
Abstand vom Fußboden zur oberen Markierung betrug nur vier Fuß neun Inches * . Die Frau, die man aus dem Duke’s Cut
gezogen hatte, war dagegen fünf Fuß, dreidreiviertel Inches groß gewesen, fast
sieben Inches * größer als Joanna zu dem
Zeitpunkt, als sie das elterliche Haus verlassen hatte, um zu heiraten. War es
wahrscheinlich oder überhaupt möglich, daß sie zwischen ihrem
einundzwanzigsten und achtundzwanzigsten Lebensjahr noch sieben Inches
gewachsen war? Lewis versuchte, seine Zweifel in Worte zu kleiden.
    «Also, ich glaube nicht, Sir,
daß eine Frau wirklich noch...»
    «Nein, Lewis, ich auch nicht»,
stimmte Morse, der bisweilen Gedanken lesen konnte, sofort zu. «Wenn auch
vielleicht nicht ganz und gar unmöglich, dann auf jeden Fall außerordentlich
unwahrscheinlich.»
    «Sie hatten also recht, Sir...»
    «Und alle vernünftigen Zweifel
sind ausgeräumt? Ja, ich denke schon.»
    «Sind wirklich alle Zweifel ausgeräumt, Sir?»
    «Ach, so ein Rest von einem
Prozent wird wohl bei jedem Fall übrigbleiben...»
    «Aber Sie wären glücklicher,
wenn...»
    Morse nickte. «Ja, ich gebe es
zu. Ich wäre glücklicher, wenn wir noch einen kleinen Extrabeweis gefunden
hätten. Ein «J» auf der Wand hier zum Beispiel, oder irgend etwas in der Art.»
    «Aber hier noch weiter zu
suchen hat wohl keinen Zweck, oder?»
    Morse zögerte einen Augenblick.
«Nein, sicherlich nicht.»
     
     
     

Kapitel 39
     
    Die
Welt ist rund, und der Ort, der dir als Endpunkt erscheinen mag, kann
genausogut auch der Anfangspunkt sein.
     
    Ivy
Baker Priest, Parade
     
     
    Es war eine ernüchternde Frage:
«Und was machen wir jetzt, Sir?»
    Morse blickte beinahe verstört
auf,
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