Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Titel: Moonshine - Stadt der Dunkelheit
Autoren: Alaya Johnson
Vom Netzwerk:
über die Augen wischen.
    »Mir fehlen die Worte«, sagte er schließlich. »Ich schwöre, dass ich Ihnen alles zurückzahlen werde, Zephyr.«
    Beim Klang meines Vornamens kehrten meine Gedanken schlagartig zu Amir zurück. »Geben Sie mir einfach das, was Sie können«, erwiderte ich. Mit einem Mal hatte ich es eilig, von hier wegzukommen. Wie viel Zeit hatte ich schon vergeudet?
    Zum Glück drückte Giuseppe nur kurz meine Hand, bevor er ging. Ich wartete, bis ich die Eingangstür hinter ihm ins Schloss fallen hörte, ehe ich das Licht löschte. Im Dunkeln suchte ich meinen Weg durch die verlassenen Schulkorridore bis in den Keller.
    Während ich die Gänge entlanglief, dämmerte mir allmählich, dass ich in einem Moment spontanen Mitgefühls mein gesamtes Monatsgehalt weggegeben hatte. In drei Tagen war meine Miete in der Pension fällig – ganze zwölf Dollar, in bar und im Voraus. Mrs. Brodsky würde kaum Anteilnahme an meiner Situation zeigen. Vielmehr konnte ich mir sicher sein, mitten im New Yorker Winter mit all meinem Hab und Gut auf die Straße gesetzt zu werden. Schon der Gedanke daran ließ mich erschaudern. Mrs. Brodsky war zwar bereit, mir Mahlzeiten ohne Fleisch zu kochen – wieso sollte sie sich auch beschweren, wenn einer ihrer Gäste günstigeres Essen für denselben Preis wollte? –, doch sie ließ eindeutig die Grundlagen menschlichen Mitgefühls vermissen.
    »Tja«, sagte ich zu mir und bemühte mich, so fröhlich wie möglich zu klingen, »dann bleiben dir immerhin noch drei Tage in diesem zerlumpten Bett.«
    »Reden alle Weltverbesserer so oft mit sich selbst wie Sie?«
    Amir stand unterhalb von mir auf der Kellertreppe, hielt eine Öllampe in der Hand und sah genauso gut aus wie vor zwei Stunden, als er noch nicht in einem verlassenen Schulkeller mit einem gerade gewandelten Vampir hatte ringen müssen. Das machte mir mehr zu schaffen, als es sollte, und neben ihm fühlte ich mich regelrecht schäbig.
    »Belästigen alle Tunichtgute unschuldige Frauen im Treppenhaus?«, erwiderte ich. Es war lieblos und undankbar von mir, wenn man bedachte, dass er meinetwegen gerade Leib und Leben riskiert hatte. Auch wenn man es ihm nicht ansah.
    Er lachte – es war ein volles, warmherziges Lachen, und ich musste im schwachen Licht der Lampe blinzeln. »Ich bin ein Tunichtgut? Welcher Tunichtgut besucht schon Abendkurse für Einwanderer?«
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zwang mich dazu, tief durchzuatmen. »Das habe ich bisher nicht herausgefunden.«
    Wieder lachte er. Ein solches Lachen hatte ich noch nie zuvor gehört. »Kommen Sie jetzt herunter, oder wollen wir uns die ganze Nacht auf der Treppe streiten?«
    Mit einem Mal fühlte ich mich ausgesprochen dumm und folgte dem schwankenden Schein seiner Laterne die Stufen hinab.
    »Geht es Ihnen gut?«, zwang ich mich zu fragen, als das Schweigen beinahe eine halbe Minute angehalten hatte. Ich war überrascht, wie ernst ich die Frage meinte.
    Er zuckte die Achseln. »Der Junge kann mir nicht weh tun. Ich bin verblüfft, wie lange Sie sich gegen ihn wehren konnten.«
    Ich verbuchte das mal als Kompliment. »Wie geht es ihm?«
    Amir blieb vor einer geschlossenen Tür stehen, die ein paar Schritte von der Treppe entfernt war. »Er schläft. Ich habe ihm ein paar Blutkonserven gegeben, um seinen Hunger zu stillen.«
    Seine Miene war unergründlich – wehmütig und wütend zugleich. Beinahe hätte ich den Ärmel seines grauen Wollpullovers berührt, doch mein Selbsterhaltungstrieb meldete sich sofort und hielt mich davon ab. Irgendwie ahnte ich, dass Amir zu berühren nichts von der rein mitfühlenden und freundschaftlichen Geste hätte, Giuseppes Hand zu ergreifen. Amir war düster und mysteriös und einer der
Anderen
 – eine Mischung, die zu faszinierend war, um ungefährlich zu sein.
    »Warum ein so kleines Kind?«, fragte er leise. »Welchen Sinn soll das haben …«
    Seine Frage wirkte seltsam naiv. »Spaß«, entgegnete ich. »Die
Turn Boys
spielen mit Menschen, wie Katzen mit Mäusen spielen. Nur viel grausamer.«
    »Was werden Sie mit ihm machen?«
    Überrascht blickte ich Amir an. »Ich … ich fürchte, darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, erwiderte ich. »Ich habe ihn einfach nur gesehen und konnte ihn nicht da liegen lassen.«
    Die plötzliche Erkenntnis, in welcher Klemme ich steckte, ließ mich verstummen. Was zur Hölle
konnte
ich denn tun? Ich konnte ihn wohl kaum mit in die Pension nehmen und riskieren, dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher