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Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Titel: Montauk: Eine Erzählung (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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gewesen wäre und so weiter; es war eher komisch. Nichts weiter. Lange Zeit lud er mich immer wieder zu Konzerten ein, nicht nur im letzten Augenblick, wenn seine Mutter die bestellte Karte nicht nutzen konnte. Er glaubte wirklich, daß kein Mensch durch und durch unmusikalisch sein könne, und in der Tat war ich oft begeistert, wenn auch auf eine banausische Art, wie ich seiner Miene entnehmen konnte; dann verstummte W. nicht hochnäsig, nur verlegen. Und trotzdem lud er mich immer wieder einmal zu einem Konzert ein; nicht ins Theater. Er war dem Theater gegenüber keineswegs taub, jedoch kritischer als ich. Überhaupt war er kritischer als ich, auch sich selbst gegenüber. Ich traf ihn oft in wirklicher Verzweiflung. Ein Mensch, der nichts und sich selbst schon gar nicht auf die leichte Schulter nehmen kann. Keine hysterische Verzweiflung; er schilderte klar und klug die Unlösbarkeit seines Problems. Was immer ich ihm dazu sagen konnte, zeigte ihm erst recht, wie einsam er ist. Unsere Nöte, zum Beispiel meine Not mit einer jüdischen Braut in den dreißiger Jahren, waren mit seiner Not nicht zu vergleichen, das spürte auch ich. Seine Not war exemplarisch, meinedoch nur persönlich, und dafür gibt es Lösungen, die er mir zutraute, so oder anders. Nicht daß W. daran keinen Anteil nahm; an seiner Not hingegen konnte niemand Anteil nehmen, schon gar nicht sein Vater, ein Mann von nüchterner Güte, auch seine Mutter nicht, die sich als Intellektuelle sah und deren Weltsucht er als Ausflucht begriff. Viele Jahre später, als wir einander lang nicht gesehen hatten (ich hatte ein Jahr in Amerika gelebt) und als ich von meiner bevorstehenden Scheidung berichtete, stellte W. keine Fragen; sein Schweigen allein zeigte mir, wie selbstgerecht ich die Sache darstellte. Wir stapften durch Wald, und W. versuchte von etwas anderem zu sprechen, aber ich hatte jetzt kein Auge für Falter. Um bei meiner Scheidung zu bleiben, fragte ich nach seiner Ehe; obschon ich die Geschichte, die er jetzt entfaltete, schon seit Jahren kannte, war es wesentlicher, was W. zu sagen hatte, reicher an Komplikationen und von tieferer Einsicht, die auf meinen Fall nicht anzuwenden war. Es wäre mehr als geschmacklos gewesen, hätte ich nochmals von meiner Schwierigkeit geredet. Seine Scheidung war unvergleichbar. Später ließ ich mich trotzdem scheiden. Daß wir uns in jenen Jahren fast nur unter vier Augen trafen, nie in einer Gruppe, so daß ich den Freund einmal in einem andern Kräftespiel gesehen hätte, fiel mir damals nicht auf. Es lag nicht nur an ihm, der Geselligkeit scheute, sondern auch an mir. Ich litt nicht unter seiner Überlegenheit, solange wir unter vier Augen waren; sie war selbstverständlich. Ich fühlte mich beschenkt, wie gesagt, ich fühlte mich ausgezeichnet wie damals, als ich ihn von der Schule nach Hause begleiten durfte. Er schenkte mir das Engadin. Noch heute kann ich nicht durch jene Gegend fahren, ohne an W. zu denken. Und ich meine ja nicht nur, daß die Reise ins Engadin für mich unerschwinglich gewesen wäre. Er kannte das Engadin. Er war auch der bessere Alpinist. Seine Familie hatte dort einen Bergführer, der ihn Jahr für Jahr unterrichtet hatte. Ohne W. wäre ich nie auf diese Berge gelangt. Er wußte, wo und wann Lawinen drohen und wie man sich in einem bedenklichen Gelände zu verhalten hat; er knüpfte die rote Lawinen-Schnur an seinen Rucksack, betrachtete gewissenhaft den Hang und prüfte den Schnee, dann sauste er voran in die Tiefe, und ich hatte mich nur an seine kühne Spur zu halten, so gut ich’s halt konnte. Als ich bei einem schweren Sturz einmal den Ski gebrochen hatte, kaufte W. unterwegs ein neues Paar für mich, damit wir die Tour nicht abbrechen mußten, nicht die allerbeste Marke, was mir peinlich gewesen wäre, immerhin eine bessere Marke mit einer besseren Bindung, als ich sie bisherhatte. Er machte das ohne Aufhebens, nicht einmal ganz unbefangen, wenn er das Geld auf den Tisch legte; es wäre ihm peinlich gewesen, wenn Geld mir Eindruck gemacht hätte. Ich dankte natürlich. Ich war nie ein gelernter Ski-Fahrer und wundere mich heute noch über seine Geduld; natürlich war W. immer voraus, ohne es darauf anzulegen; er stürzte nicht, und wenn ich nach einer geraumen Weile bei ihm ankam, weiß nach einigen Stürzen und außer Atem, sagte er immer: Laß dir Zeit. Es machte ihm nichts aus zu warten. Unterdessen hatte er die Landschaft genossen, zeigte mit dem Stock in die Gegend und
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