Montauk: Eine Erzählung (German Edition)
der blaue Wagen steht immer noch allein auf dem sonnigen Parkplatz. Es fällt ihm ein, daß niemand weiß, wo er sich an diesem Tag befindet. Das freut ihn. Auch wenn sie nicht mehr glauben, daß dieser Pfad je zur Küste führt, gehen sie: um nicht zu stehen in diesem Gestrüpp und Gebüsch, wo niemand sie sieht. Ein Funkmast, der jetzt zu sehen ist, zeigt an, wie weit die Küste noch entfernt ist; US MILITARY AREA , das hat er auf der Landkarte gelesen; hier käme man ohnehin nicht ans Meer. Sie haben sich verirrt. Es macht aber gar nichts; sie sind da, wo sie sind; ohne Ziel gemeinsam. Um sich nicht irgendwo auf die Erde zu setzen, gehen sie. Man hat schon großartigere Landschaften gesehen, trotzdem versucht er’s mit der Kamera, MICROFLEX 200. Im Sucher zu sehen: Fels mit Büschen oder kahl, Himmel, in der Ferne ein plumper Leuchtturm, ZOOM , das ergibt auch nichts: der Leuchtturm noch etwas plumper. Es lohnt sich nicht, die Kamera surren zu lassen. Es wird Mittag, und es ist schade, daß man jetzt nicht am Meer ist; es ist Samstag. Einmal muß er sich den linken Schuh schnüren; sie wartet schlendernd. Wer die beiden sähe, würde nicht ohne weiteres wissen, was von ihnen zu halten ist: Tochter und Vater oder ein Paar? Sie küssen einander nicht; eine Weile lang, als sie auf einen breiteren Weg gelangt sind, gehen sie Hand in Hand, aber dieser Weg führt sie in eine falsche Richtung, und sie verlassen ihn wieder. Offenbar führt der Weg zu einer Farm; man sieht ein grasendes Pferd. In der Ferne ein fahrendes Auto auf dem Highway: lautlos. Man hört Vögel; kein Vogellied, ein gezwitscherter Alarm. Wieder denkt er daran, daß niemand (weder in New York noch in Berlin) vermuten kann, wo sie zu dieser Stunde sich befinden. Sie sind unerreichbar. Das haben sie gemeinsam. Ab und zu sagen sie etwas: LOOK AT THIS , um sich zu versichern, daß sie hier sind und nicht anderswo. Wahrscheinlich sucht sie auch niemand an diesem Tag. Sie haben Glück mit dem Wetter; gestern hat es noch geregnet. Beim Sprung über einen Tümpel hat sich der Knoten ihres Haares gelöst; ihr rotes Haar (Hagenbuttenrot, aber hell) fällt jetzt offen über ihren Rücken. Sie bleibt stehen, um wieder diesen Knoten zu machen, I AM GETTING HUNGRY , sagt sie, und da sie stehen, muß auch er etwas sagen. DO YOU KNOW DONALD BARTHELME ? fragt er, HIS WORK ? Sie liest nicht viel. HE IS A GOOD FRIEND OF OURS , sagt er, um sich nicht als Kenner der amerikanischen Literatur aufzuspielen. Unterdessen hat sie ihren Knoten aufgemacht, und da er vor einer Stunde versprochen hat, den Parkplatz wiederzufinden, geht erjetzt voran. Ohne Pfad. Einmal eine Coca-Cola-Dose im Gras; also sind sie nicht die ersten Menschen hier. Dann fällt ihr neuerdings der Knoten auseinander; sie gibt es auf und läßt das Haar jetzt offen. Lynn ist noch unerreichbarer als er; zwar hat sie gestern, um früher loszukommen, im Office gesagt, wohin sie fahre mit Freunden; wenn aber jemand in sämtlichen Hotels der langen Insel anruft: nicht einmal ihr Vorname ist eingetragen, nur sein Name, und niemand vermutet die beiden zusammen.
MAX, YOU ARE A LIAR
Es gelingt nicht alles an diesem Tag. Zwar findet er den Parkplatz (nur in Träumen kommt es vor, daß ich den Wagen nicht mehr finden kann) und der blaue Ford steht an seinem Ort; nach wie vor der einzige Wagen. Sie hat den Schlüssel; Lynn fährt. Ein Hamburger oder eine Pizza würde ihr genügen. Draußen beim Leuchtturm, wo die Straße endet, ist das Restaurant noch nicht im Betrieb, nur die Toilette benutzbar. Er wartet auf der Terrasse. Ein Sternenbanner, das flattert; ein Fernrohr mit Münzeinwurf, das er nicht benutzt. Es ist windig hier. Wenn Lynn eine Weile weg ist und während er wartet, ist er gespannt, wie sie eigentlich aussieht; nicht ungeduldig. Hier sieht man das Meer, aber er versucht, sich an ihre Stimme zu erinnern. Wenn sie anruft, sagt sie bloß: HI ! da er ihre Stimme kennt. Ihre Haut (das weiß er): die blasse Haut der Rothaarigen; ohne Sommersprossen. Er lehnt an die Mauer, Rücken zum Meer; sie wird über diese öde Terrasse kommen, und er ist gefaßt darauf, überrascht zu sein, daß sie, wie immer sie aussieht, auf ihn zukommt und einfach da ist. Jetzt ist es Mittag; alles ist außen: ein Sternenbanner, das flattert, ein plumper Leuchtturm, die Möwen, irgendwoher Musik aus einem Transistor, das glänzende Blech auf dem weiten Parkplatz, die Sonne, der Wind –
Lynn wird 31.
Vor wenigen
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