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Mondmädchen

Mondmädchen

Titel: Mondmädchen
Autoren: Boje Verlag
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Leichnam hier auf der Stelle weg, oder es gibt eine Meuterei auf dem Schiff!«, brüllte der Kapitän auf der anderen Seite der Tür.
    Ein Griffel auf dem Boden rollte bei den Bewegungen des Schiffes hin und her. Die Flamme der bronzenen Hängelampe flackerte. Doch ich gab keine Antwort.
    »Kleiner Mond, Mondmädchen«, flüsterte meine alte Amme Zosima. »Bitte, du musst etwas sagen.«
    Seit Langem hatte mich keiner mehr Mondmädchen genannt. Der Kosename ließ eine Welle von Kummer und Trauer in mir aufsteigen, aber ich schluckte sie hinunter. Ich musste die Kontrolle bewahren.
    »Sprich mit ihm durch die Tür hindurch«, sagte ich. »Aber mach ihm nicht auf.«
    Der Kapitän musste unser Flüstern gehört haben. »Hört ihr mich?«, rief er. »Je länger ihr euch in der Kabine mit dem Leichnam versteckt haltet, desto überzeugter werden meine Männer davon sein, dass ihr den dunklen Künsten huldigt. Dass du eine Hexe bist wie deine Mutter. Begreifst du die Gefahr?«
    »Sag ihm, dass wir bei Sonnenaufgang seinem Wunsch Folge leisten werden«, sagte ich zu Zosima. »Keinen Augenblick früher.«
    Der Kapitän unterbrach sie mit einem Wutausbruch. »Wenn wir nicht sofort handeln, habe ich hier eine ausgewachsene Revolte! Selbst die Sklaven weigern sich, auf ihren Posten zu bleiben!«
    Ich stand auf. »Sag deinen Leuten«, rief ich in dem Ton, mit dem Mutter große Menschenmengen angesprochen hatte, »dass in Ägypten der Geist eines Körpers, der nicht alle Totenriten erhalten hat, dazu verdammt ist, am Ort seines Todes herumzuspuken und Elend und Verderben mit sich zu bringen. Um ihrer eigenen Sicherheit willen, müssen sie es mich zu Ende bringen lassen.«
    Keine Reaktion. Die meisten Römer waren abergläubisch, aber römische Seeleute waren die schlimmsten von allen. Darauf setzte ich meine Hoffnungen.
    »Aber es dauert noch eine ganz Stunde bis zum Sonnenaufgang!«, jammerte der Kapitän.
    Trotz meiner Bemühungen konnte ich meinen Ärger nicht verbergen. »Aber du wirst doch deine Männer wenigstens eine Stunde in Schach halten können, Kapitän?«
    Schweigen. War ich zu weit gegangen?
    »Schwörst du, die Riten beim ersten Licht der Sonne zu vollführen und die Sache zu beenden?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Kann ich meinen Männern das versprechen?«
    »Du hast mein Wort«, sagte ich.
    Kurze Pause. Dann das Geräusch wütend davonstampfender Schritte. Ich atmete aus.
    Ich wandte mich zu Alexandros um. Ich stellte mir vor, dass alles nur ein großes Versehen war. Mein Zwillingsbruder, die Sonne zu meinem Mond, schlief doch nur. Wir hatten uns immer darüber lustig gemacht, dass er so fest schlief wie ein Toter.
    Aber ich konnte mir nicht mehr länger vormachen, dass die graue Farbe seiner Haut, die eingesunkenen Augenhöhlen nur der Beleuchtung geschuldet waren. Mein Bruder hatte das Gift getrunken, das für mich bestimmt gewesen war. Und damit war nun auch der letzte Rest meiner Familie ausgelöscht.
    »Ich brauche mehr Stoffstreifen«, sagte ich zu Zosima. »Bring mir das weichste Leinen, das du auftreiben kannst, für seinen Kopf. Er muss bequem liegen.«
    Zosima reichte mir ein weiches, abgetragenes Unterkleid. Das musste genügen. Ich zerteilte den Stoff mit meinem Dolch – der einst unserer Mutter gehört hatte – und nahm dann die Stücke zwischen die Zähne und zerriss den Rest mit den Händen.
    »Bitte. Lass mich … lass mich den Stoff zerreißen«, sagte Zosima. »Das solltest du nicht tun.«
    Den Stoff noch immer zwischen den Zähnen schüttelte ich den Kopf und fühlte mich dabei wie eine Löwin, die einem kleinen Tier das Genick bricht. Nein, ich war die Einzige, die es tun konnte.
    Auf einem römischen Schiff gab es keine Priester des Anubis. Ich konnte den Körper meines Bruders nicht auf die althergebrachte Weise einbalsamieren, aber ich hoffte inständig, dass die Götter ein Einsehen haben und ihn schützen würden, wenn ich ihn nur gut genug bandagierte und seinen Körper dem Osiris und Poseidon zum Opfer darbrachte. Nur dann konnte sein Ka , seine Seele, im Jenseits mit ihm vereint werden und ich würde ihn wiedersehen.
    Ich umfing Alexandros’ Kopf von hinten mit einer Hand und wand die Leinenstreifen mit der anderen darum herum. Als ich zu seinen Augen kam, begann ich wieder zu weinen. Aber ich hörte nicht auf zu arbeiten. Ich küsste ihn auf die Stirn, bevor sie unter den Bandagen verschwand.
    Gedämpfte Streitlaute ertönten über uns. Würden die Männer trotzdem
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