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Momo

Momo

Titel: Momo
Autoren: Michael Ende
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es sogar sehr, den Kunden weitläufig seine Ansichten auseinanderzusetzen und von ihnen zu hören, was sie darüber dachten. Auch gegen Scherengeklapper und Seifenschaum hatte er nichts. Seine Arbeit bereitete ihm ausgesprochenes Vergnügen, und er wußte, daß er sie gut machte. Besonders beim Rasieren unter dem Kinn gegen den Strich war ihm so leicht keiner über. Aber es gibt eben manchmal Augenblicke, in denen das alles kein Gewicht hat. Das geht jedem so.
„Mein ganzes Leben ist verfehlt“, dachte Herr Fusi. „Wer bin ich schon? Ein kleiner Friseur, das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch!“
Wie dieses richtige Leben allerdings beschaffen sein sollte, war Herrn Fusi nicht klar. Er stellte sich nur irgend etwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah. „Aber“, dachte er mißmutig, „für so etwas läßt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muß man Zeit haben. Man muß frei sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum.“
In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusis Friseurgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue Aktentasche auf den Tisch vor dem Spiegel, hängte seinen runden steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus der Tasche und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte.
Herr Fusi schloß die Ladentür, denn es war ihm, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in dem kleinen Raum.
„Womit kann ich dienen?“ fragte er verwirrt, „Rasieren oder Haare schneiden?“ und verwünschte sich im gleichen Augenblick wegen seiner Taktlosigkeit, denn der Herr hatte eine spiegelnde Glatze. „Keines von beiden“, sagte der graue Herr, ohne zu lächeln, mit einer seltsam tonlosen, sozusagen aschengrauen Stimme. „Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, daß Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen.“
„Das ist mir neu“, erklärte Herr Fusi noch verwirrter. „Offengestanden, ich wußte bisher nicht einmal, daß es ein solches Institut überhaupt gibt.“
„Nun, jetzt wissen Sie es“, antwortete der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notizbüchlein und fuhr fort: „Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?“
„Ganz recht, der bin ich“, versetzte Herr Fusi.
„Dann bin ich an der rechten Stelle“, meinte der graue Herr und klappte das Büchlein zu. „Sie sind Anwärter bei uns.“
„Wie das?“ fragte Herr Fusi, noch immer erstaunt.
„Sehen Sie, lieber Herr Fusi“, sagte der Agent, „Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie nie gegeben. Wenn Sie Zeit hätten, das richtige Leben zu führen, wie Sie das wünschen, dann wären Sie ein ganz anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen, ist Zeit. Habe ich recht?“
„Darüber habe ich eben nachgedacht“, murmelte Herr Fusi und fröstelte, denn trotz der geschlossenen Tür wurde es immer kälter.
„Na, sehen Sie!“ erwiderte der graue Herr und zog zufrieden an seiner kleinen Zigarre. „Aber woher nimmt man Zeit? Man muß sie eben ersparen! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen?“
„Gewiß“, sagte Herr Fusi.
Der Agent Nr. XYQ/384/b begann die Zahlen mit einem grauen Stift auf den Spiegel zu schreiben.
„Sechzig mal sechzig ist dreitausendsechshundert. Also hat eine Stunde dreitausendsechshundert Sekunden.
Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, also dreitausendsechshundert mal vierundzwanzig, das macht sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden pro Tag.
Ein Jahr hat aber, wie bekannt, dreihundertfünfundsechzig Tage. Das macht mithin einunddreißigmillionenfünfhundertundsechsunddreißigtausend Sekunden pro Jahr.
Oder dreihundertfünfzehnmillionendreihundertundsechzigtausend Sekunden in zehn Jahren.
Wie lange, Herr Fusi, schätzen Sie die Dauer Ihres Lebens?“
„Nun“, stotterte Herr Fusi verwirrt, „ich hoffe so siebzig, achtzig Jahre alt zu werden, so Gott will.“
„Gut“, fuhr der graue Herr fort, „nehmen wir vorsichtshalber einmal nur siebzig Jahre
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