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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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Beinen, in ihren Chucks, in karierten Tweed-Shorts und kurzer Jacke. Moritz in Kurzmantel. Zwei Jahre jünger als Franziska. Aber sie sehen fast wie Zwillinge aus. Hochgewachsen. Mit braunen Locken, blauen Augen, 30er-Jahre-Gesichter von einer britischen Postkarte, Gott weiß warum Marina an eine britische Postkarte denkt. John Perlman, ihr und Andreas’ amerikanischer Freund, der, wie viele Amerikaner, immer noch alles Deutsche am ehesten mit der Nazi-Zeit in Verbindung bringt, würde sagen: »Arische Engel!«
    »Ha-ha-ha!«
    «Ha-ha-ha!«
    Jetzt sind sie wieder eine Spur zu weit weg und lachen auf und brechen ab. Marina kann nicht mehr hören, aus welchem Anlass.
    Worüber lachen Engel, sorglos, rigoros, rätselhaft, wenn sie sich an das irdische Leben erinnern? Darüber, dass die Menschen jeden Quatsch für wichtig halten, von dem die Engel wissen, dass es nichts ist. »Schau, die Seele da war die von Frau X, weißt du noch, wie Frau X schrie, als man sie und ihre Familie im Wald erschoss?«
    »Ha-ha-ha!«
    «Ha-ha-ha!«
    »Und da ist die von Herrn Y. Er machte ein so komisches Gesicht, als man ihm sagte, sein Bein sei nicht mehr zu retten.«
    »Ha-ha-ha!«
    «Ha-ha-ha!«
    »Andreas«, sagt Marina: »Ich glaube, eine unsterbliche Seele, wenn sie den sterblichen Körper endlich los wird und dort ankommt, wo sie alle ankommen, sagt als erstes, dass niemand durch das Leben besser wird.«
    »Du hast Ideen!«, sagt Andreas. Er ist angespannt, weil ihm kalt ist, weil er Hunger hat, weil Moritz dauernd an etwas hängen bleibt, weil Franziska gereizt auf alles reagiert, weil er all das mit Marina nicht besprechen kann. Mit Sabine kann er auch nicht richtig über die Kinder sprechen.
    »Ha-ha-ha!«
    «Ha-ha-ha!«
    5.
    Ein Mädchen in Franziskas Alter in kurzem Jäckchen und mit drei verschiedenfarbenen Schals um den Hals kommt schnell heran, bleibt im Halbschritt stehen:
    »Würden Sie mir bitte ein bisschen Geld geben«, sagt sie mit überzeugendem Ernst, schaut die kleine Gruppe streng an und ergänzt für die Begriffsstutzigen: »Fürs Essen.«
    Franziska sagt »nein«. Marina sieht, dass sie sich nun quälen wird, und sagt:
    »Unglaublich, wie beständig die Menschentypen sind. Genau so waren die Hippies, mit überzeugendem Ernst. Diese Aufgabe, dir ein paar Groschen abzuluchsen, ist eine künstlerische Herausforderung. Sie verkaufen dir ihre Kunst. Entweder wird man dich überzeugen oder nicht. Das ist, wie wenn du einen, keine Ahnung, sagen wir eine CD kaufst oder nicht kaufst. Es gibt natürlich andere Bettler, Bettlertypen, die ich nicht verstehe, aber diesen verstehe ich, aus meiner Zeit mit den Hippies, glaub mir.« Einerseits sagt Marina die Wahrheit, andererseits denkt sie gleich, dass sie es jetzt so macht, wie es der fürsorgliche und naive Vater von Gautama Buddha gemacht hat, der dem Kind alles Elend der Welt vorenthalten wollte. Schon kommt der andere Bettler in schwarzem Ledermantel und schwarzem Lederhut auf sie zu und sagt: »Hätten Sie ein paar Groschen für einen Vagabunden?« Marina gibt ihm einen Euro, sagt »bitte schön« und zu Franziska, dass sie das wegen der Wörter »Groschen« und »Vagabund« getan habe. Franziska lacht.
    »Gehen wir, wer hat Hunger?«, sagt Marina und hört, dass das wieder eine Spur zu munter klingt. Und ihre Schuhe stöckeln zu laut. Und Andreas schweigt und friert. Und die Kinder langweilen sich.
    Moritz lacht nicht mehr. Trunkene Schwäne, denkt er,
    trunkene Schwäne.
    Vertrunkene Schwäne.
    In Herbstes Wirtshaus vertrunkene Schwäne.
    Getrunkene Schwäne.
    Getrunkene Schwäne, klar im Neckar gespiegelt, auch die Stauden, doch kannst du dir nie das Wasser zusammen mit dem schöpfen, was du so deutlich siehst, keinen Schwan trinken, keinen sich küssenden Schwan trinken. Untrinkbare Schwäne.
    Franziska lacht nicht mehr, sie denkt an Martin.
    Marina denkt, dass sich Andreas seine graublonde (wie vergilbtes Gras im Raureif) Stirnsträhne immer zu früh wegschneiden lässt und dass ihr an ihm diese Strähne am meisten gefällt, seit sie ihn als deutschen Studenten kennenlernte und seine Schillernase und diese ins Gesicht fallende Strähne mit der deutschen Romantik in Verbindung brachte. Und jetzt, ohne diese Strähne, hat er ein rechteckiges Gesicht und friert und ist hungrig und verstimmt.
    Wenn dieser Enterich in vier Sekunden nicht wieder auftaucht, denkt Moritz, passiert etwas Schlimmes. Wird Franziska etwas zustoßen. Nein, denkt Moritz, ich habe das nicht
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