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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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Das Schlüsselbein von Gogol.«
    »War das die Gorbatschow-Zeit? Oder schon Jelzin?«, will Moritz wissen und Marina, die das selbst nicht mehr so genau weiß, staunt, wozu er das braucht, und sagt:
    »Weißt du, keine Ahnung, aber mit John bin ich mir bis heute nicht so sicher. Ich erzähle dir eine Geschichte.«
    7.
    Die Kellnerin brachte Weißbrot und Olivenöl. Eine Halbkugel Bordeaux im Glas vor Marina. Eine Halbkugel Bordeaux im Glas vor dem Stuhl, der auf Franziska wartete. Andreas trank sein Bier. Moritz auch. Die Kellnerin brachte vier Teller Kürbis-Spinat-Suppe. In jedem Teller ungemischt je ein oranger und ein grüner Halbkreis. Andreas sah auf seine Uhr. Moritz sagte: »Die Suppe ist sowieso zu heiß.« Die gebratene Gans am Nachbartisch wurde für gut befunden. Marina stand auf und ging auf die Toilette.
    Franziska hatte sich übergeben müssen. Sie wusch sich gerade das Gesicht, lächelte Marina zu. Marina zog die Lippen nach, um einen Grund vorzutäuschen, warum sie im WC-Raum erschienen war. Sie hatte ohnehin die Lippen nachziehen wollen. Hätte Marina nicht gewusst, wie überempfindlich das Mädchen ist, hätte sie denken können, Franziska hätte ihre Pille nicht genommen und nun mit den Folgen zu tun. Aber Marina machte sich Sorgen um Franziskas Magen. Und um Franziskas Nervenzustand, ob sie in dieser Hinsicht nach ihrem Vater geraten war, Gott bewahre. »Geht es dir gut?« Franziska war es peinlich, diese Frage zu beantworten. Klar, es ging ihr nicht gut. Vielleicht hat sie etwas mit dem Magen. Vielleicht hat sie mal die Pille vergessen und war schwanger. Vielleicht war es die Vorstellung, es sei ein menschliches Schlüsselbein gewesen + den ganzen Tag in der Kälte spazieren + etwas Wein ohne etwas zu essen.
    Aber die Suppe schmeckte auch Franziska. Sie aß und dachte wieder an die Kellnerin, deren Lider lichtblau waren, in der Mode der 60er (Monroe auf dem Warhol-Bild). Andreas wollte noch ein Bier, die Kellnerin notierte und Franziska dachte, dass ihre gesenkten Lider ein surrealistisches Bild abgeben würden, ein ungemaltes Bild von Magritte: anstatt der Lider – zwei klare Sommerhimmel. Soll ich das malen? Werden sie mich in der Hochschule für ganz bekloppt halten? Andreas dachte an Laura. Und Moritz dachte daran, dass niemand weiß, wie viel Esslöffel Suppe in einem Suppenteller sind, und dass ihm das immer einfiel, wenn die Suppe schon gegessen war.
    8.
    Am Abend im Hotel, nachdem sie sich auf drei Zimmer verteilt haben:
    Marina (etwas in ihrer Reisetasche suchend): Was willst du machen, Kinder sind unglücklich, ich meine nicht speziell deine, alle, immer.
    Andreas (aus der Toilette): Weiß nicht, vielleicht hätte ich doch bei Sabine bleiben sollen, es tut ihnen bestimmt nicht gut, dass sie so viele Bezugspersonen haben.
    Marina wollte sagen, dass es überhaupt nicht seine Entscheidung gewesen sei; dass sich eher Sabine von ihm getrennt habe als er sich von Sabine. Schwieg aber, sich fragend, was sie vorzöge: dass Andreas denkt, dass er Sabine ihret(Marinas)wegen verlassen habe, oder, dass er sich für Marina entschieden habe, als er allein blieb, von Sabine zurückgelassen? Denn diese Geschichte ließe sich unterschiedlich interpretieren, wie jede Geschichte, wie Geschichte überhaupt.
    Marina: Bis sie erwachsen werden. So ein spezielles Unglück, Halb-Kind, Halb-Erwachsener zu sein.
    Andreas dachte, dass das vielleicht etwas grob geraten war, was er Marina gesagt hatte. Er hatte das nicht gewollt. Was er wollte: Marina zeigen, dass er an ihr hängt, dass er ihretwegen etwas gemacht hatte, was man durchaus als Opfer verstehen könnte, was man zu schätzen wissen sollte.
    Andreas: Deine Reisetasche ist albern. Schäbig. Wieso nimmst du nicht deinen Trolley?
    Andreas hatte Marina einen guten Trolley-Koffer geschenkt, nicht zu groß, zu ihrer fragilen Erscheinung passend. Schließlich ist sie kein Hippie-Mädchen mehr, um noch mit ulkigen Umhängetaschen herumzulaufen.
    Marina: Oh, Hilfe!, ich habe meine Hausschuhe vergessen!
    Moritz lag im Dunkel des winzigen Hotelzimmers (es war ein sehr altes Haus, ehemals irgendeine Pilgerherberge) und wunderte sich, wie wenig Platz ein Mensch im Mittelalter zu brauchen meinte. Er erinnerte sich daran, wie vogelartig das Mörike-Schlüsselbein aussah. Auch Schwäne sollen so einen Übergang von der Brust zum Flügel haben, wie ein Oberarm oder eine Elle. Ich trinke Schlüsselbein der Schwäne, ich trinke Küsse des Herbstes
    ich trinke
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