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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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schlüsselbein der schwäne,
    schwäne trinken küsse des herbstes
    ich trinke schlüsselbein der schwäne,
    untrinkbare küsse des herbstes
    In diesem Kämmerchen brauchst du nicht einmal aufzustehen, um Licht anzumachen und vom Tisch das Hotel-Papier und den Hotel-Kugelschreiber zu holen.
    ich trinke schlüsselbein der schwäne,
    ich trinke küsse des herbstes
    vom herbst geküsst
    der herbst ist untrinkbar
    Franziska schwebte über dem nüchternen Neckar, der mit dem trügerischen Byssos der hiesigen Schaufenster aufblitzte. Ihr Geist, leichter als eine Taubenfeder, vergaß alles, wovon ihr Körper, auch nicht viel schwerer als ein Bund Vogelknochen, geplagt wurde. Der Körper: halb Kind halb Frau. Der Körper, der sich gegen die Zwei(Ein?)deutigkeit des Lebens wehrt. Beseelter Braten. Trunken. Vom Herbst geküsst. Sie kommt morgen zurück ins Bett, in ihren Körper, wie sie jeden Morgen zurück ins Bett, in ihren Körper kommt, jeden Morgen weniger von der Ein(Zwei?)deutigkeit des Lebens wissend. Eine Spur ruhiger. Erwachsener. Immer weniger ein Kind. Immer mehr eine Frau. Sie fließt mit dem Wasser des Flusses, mit dem Fluss des Wassers, ein trunkener Schwan, sie hat keinen Grund, zurückzukehren. Nur Moritz (nur Martin; nur Mutter; aber auch Vater, na gut, auch Stiefvater und Marina; und ein paar angefangene Bilder) vielleicht. Ein paar angefangene Bilder am ehesten. Und Moritz. Und Martin.
    Andreas dachte den ganzen Tag daran, dass es an der Zeit wäre, wieder einmal das zu tun, was ihm sein Therapeut geraten hat, nämlich etwas, was er noch nie im Leben gemacht hat. Er sagte Marina, er wolle vor dem Einschlafen eine Runde um das Viertel machen. Es war kalt draußen. Er ging Richtung Fluss. Lass dir etwas einfallen. Ein Spaziergang in der Nacht ist natürlich nichts. Vielleicht im kalten Neckar schwimmen? Eine farblose Nachtweide schob ihre Tränen auseinander und eine dreibeinige Katze, unbestimmt fleckig, wie von Sandpapier geschrubbt, kam heraus, sah ihn an und sagte: »Geh getrost zurück, es ist schon geschehen: Du hast noch nie zuvor mit einer dreibeinigen Katze gesprochen.«
    9.
    Der neue Tag mischte alles neu. Moritz vergaß das Wirtshaus des Herbstes, erinnerte sich aber an den Vorsitzenden Mao:

    Der Kaiser von China schickte einen in vielem bewanderten und treuen Mann um die Welt, weil er wissen wollte, wie es in den anderen Ländern so ging. Die dürre Gestalt des kaiserlichen Gelehrten verschwand im violetten Sonnenuntergang und tauchte nach fünf Jahren wieder aus dem nebeligen Morgenrot auf.
    »Oh, mein Herr«, so sagte der Gelehrte, »es gab keinen Grund, mich um die Welt zu schicken. Denn überall, wo ich gewesen bin, und ich bin überall gewesen, ist alles gleich wie im Reich der Mitte. Gleich leiden die Menschen und gleich freuen sie sich, gleich versuchen sie die unbegreifliche Absicht der Götter zu begreifen. Ich habe trotzdem jeden Tag alles aufgeschrieben, was ich zu sehen bekam, Eurem Befehl folgend. Das war jedoch vielleicht überflüssig, denn ich habe nichts gesehen, was sich großartig von dem unterschieden hätte, was ich davor zu Hause gesehen habe.«
    Und der Gelehrte verbeugte sich tief vor seinem Kaiser und legte seine Schrift zu Füßen seines Herrn.
    Der Kaiser war unzufrieden mit dem Bericht und nicht mit der Annahme einverstanden, dass Menschen in seinem Reich leiden. Der Gelehrte wurde mit reichen Geschenken belohnt und auf dem Weg nach Hause (wo er noch nicht gewesen war, denn er hatte sich beeilt, seinen Kaiser zu sehen) mit einem Brokatband erdrosselt.
    Seine Schrift blieb in der verbotenen Stadt und wurde in der Schatzkammer von Schichten goldenen Staubs bedeckt.
    Von Zeit zu Zeit kam der eine oder der andere der nachfolgenden Kaiser in die Goldstaubkammer, nahm die Schrift in die Hand, nieste und sah sich das Werk des um die Welt gewanderten Gelehrten an. Da jener Gelehrte auch ein Magier war, hatte seine Schrift die Eigenschaft, sich mit der Zeit zu ändern. Seine Berichte wurden der jeweiligen Gegenwart angepasst. Weil er zum Schluss gekommen war, dass nicht nur im Raum alles gleich ist, sondern auch in der Zeit: Nicht nur überall, sondern auch allezeit leiden die Menschen und freuen sich und versuchen die unbegreifliche Absicht der Götter zu begreifen. Und jeder Kaiser, der diese Schrift sah, bedauerte, dass man jenen Gelehrten nicht noch einmal beschenken und erdrosseln konnte.
    Einmal kam der Vorsitzende Mao in die Goldstaubkammer. Was er in dieser Schrift
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