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Mittsommerzauber

Mittsommerzauber

Titel: Mittsommerzauber
Autoren: Inga Lindström
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sie seitwärts zu Boden stürzen ließ, weg von dem Baum, der sich jetzt majestätisch weiter nach unten neigte, während des Fallens blitzartig schneller wurde und schließlich mit einem gewaltigen Krachen aufschlug. Der Boden bebte unter ihr, und Anna bekam eine Ladung Fichtennadeln und Waldstaub in den Mund, als sie sich eilig aufrappelte und durch das Gewirr der zitternden Aste nach Robert und ihrem Bruder Ausschau hielt.
    Harald lag keine fünf Meter von ihr entfernt, und Robert befand sich unter ihm. Anna begriff sofort, dass Robert ihren Bruder buchstäblich in allerletzter Sekunde aus der Gefahrenzone gerissen hatte.
    Er schob Harald vorsichtig von seinem Körper und rollte sich herum, um aufzustehen.
    Halb kroch, halb taumelte Anna zu den beiden hin. Sie beugte sich über ihren Bruder. »Harald?«
    Er lag reglos auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Ein dünner Speichelfaden rann aus seinem Mund, und über seine rechte Wange zog sich eine blutige Spur. Er musste von einem der Aste gestreift worden sein. »Harald!« Sie griff nach seiner Schulter und rüttelte ihn leicht, doch er bewegte sich immer noch nicht.
    Robert kam an ihre Seite getaumelt, und als sie zu ihm aufblickte, sah sie, dass er noch schlimmer aussah als Harald. Seine linke Gesichtshälfte war völlig zerkratzt, und aus einem offenen Riss an seiner Schläfe tropfte Blut.
    »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
    Er nickte. »Und bei dir?«
    »Ja, bei mir auch.« Sie beugte sich abermals über Harald.
    »Harald? Hörst du mich? Harald!«
    Ihr Bruder gab kein Lebenszeichen von sich, und Anna bekam es mit der Angst zu tun. »Er ist bewusstlos!«
    »Der Baum hat ihn nicht erwischt. Ich war rechtzeitig bei ihm.«
    »Trotzdem! Irgendwas stimmt nicht mit ihm!«
    Robert zog sein Handy aus der Brusttasche. »Ich rufe eine Ambulanz.«
    Anna beugte sich zu Harald hinunter und versuchte, seinen Atemzügen zu lauschen, doch da war nichts.
    »Er atmet nicht!«, schrie sie voller Panik. Sie legte zwei Finger gegen seine Kehle, doch sie fand keinen Puls.
    Ohne zu zögern, riss sie Haralds Hemd auf und begann mit einer Herzmassage. Sie zählte dabei stumm und verbissen, wie sie es in diversen Erste-Hilfe-Kursen gelernt hatte. Eins-eintausend, zwei-eintausend, drei-eintausend... Sie bewegte die Hände, presste und stieß sie gegen seine Brust, immer im selben Rhythmus, immer mit demselben Druck. Dann die Mund-zu-Nase-Beatmung. Und wieder Herzmassage. Sie fluchte und schwitzte, aber sie gab nicht auf. Er war ihr Bruder, um Gottes willen! Er lag hier und starb unter ihren Händen! Und sie hatte ihn mit den Tabletten gehen lassen, weil sie nicht wollte, dass Bertil merkte, was mit ihm los war!
    »Ich löse dich ab«, sagte Robert mit ruhiger Stimme neben ihr. Er hielt ihre Hände fest und schob sie zur Seite.
    Anna wollte sich widersetzen, doch im nächsten Moment schrie sie erleichtert auf. Harald bewegte sich! Sein Mund klappte auf und zu wie bei einem sterbenden Karpfen, und mühsam schnappte er nach Luft. Gurgelnd und würgend kam er zu sich und schlug schließlich die Augen auf. Seine Lippen bewegten sich. »He, wo bin ich?«
    »Zurück in der Welt«, sagte Anna. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und fing an zu weinen.

    *

    Sie hielt seine Hand, als die Sanitäter ihn auf der Trage zum Krankenwagen brachten.
    »Danke«, murmelte er. Seine Blicke wechselten zwischen ihr und Robert hin und her, und in dem Moment war ihnen allen klar, dass sein Dank sich an sie beide richtete. Sein Leben war heute gleich zweimal gerettet worden, und er wusste es.
    »Du wirst es schaffen, Harald«, versprach Anna ihm. »Ich helfe dir.«
    Sie wartete, bis die Türen des Krankenwagens zugefallen waren, dann wandte sie sich zu Robert um, der schweigend hinter ihr gewartet hatte. »Sag mal, wieso bist du eigentlich noch hier? Ich meine, musst du nicht zurück nach Kanada?«
    »Was soll ich da?«, fragte er.
    »Nun...« Sie druckste ein wenig herum. »Es liegt doch nahe, oder nicht?«
    »Wie kommst du darauf?«
    Sie zögerte, doch dann holte sie entschlossen Luft. »Wegen deiner Frau.«
    »Meine von mir in Scheidung lebende Frau«, korrigierte er.
    Sie schaute ihn mit großen Augen an, woraufhin er nachlässig die Schultern hob. »Hättest du mich einfach mal ausreden lassen anstatt gleich wegzurennen, wüsstest du es schon. In ein paar Tagen wird unsere Scheidung durch sein. Wir sind bereits seit fünf Jahren getrennt.«
    »Und was bedeutet das konkret?«, fragte Anna mit gespieltem
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