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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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meint, ich solle mir keine
Sorgen machen, aber ich habe Angst. Die Geschichten über die
Gräber jagen mir Furcht ein, und meine Nachbarin sagt, dass
sie nachts im Wald seltsame Dinge hört … ich besitze keine
Mittel, aber Ilie ist ein kräftiger Bursche, der hart arbeiten
kann. Bitte, lieber Bruder – ich weiß nicht, was ich tun soll.
    Nachdem sie die Übersetzung noch einmal gelesen hatte,
klickte Caroline auf den zweiten Anhang. Langsam baute sich
das Bild eines altmodischen Fotoporträts auf, die Farbe
ausgeblichen, feine Risse im Papier, und mit einer weißen
geraden Linie in der Mitte, wo das Foto entweder gefaltet oder
durchgerissen worden war. Die abgelichtete Frau schien um die
dreißig zu sein, stand neben einem etwas älteren Mann, der in
einem kunstvoll geschnitzten Lehnstuhl saß, und hatte die
Hand auf seine Schulter gelegt. Der obligatorische Hintergrund
stellte einen Garten dar, vor dem dieser Stuhl, der eher einem
Thron glich, nicht nur unpassend, sondern geradezu grotesk
wirkte. Aber es war weder dieser seltsame Stuhl noch die Frau,
die Carolines Aufmerksamkeit fesselten.
    Es war der Mann auf diesem Stuhl, auf dessen Schulter die
Hand dieser Frau ruhte.
Sie war beinahe sicher, dass das der gleiche Mann war, den
sie als Anthony Fleming kannte.
    Der Zug verlangsamte seine Fahrt, als er in den Bahnhof von
Birtin einfuhr, und während Caroline ihren Koffer aus dem
Gepäcknetz hievte, suchte sie den Bahnsteig nach dem Mann
ab, der sie abholen wollte. Auf Milos Alexandru war sie im
Internet gestoßen; er betrieb den größten Antiquitätenladen in
Birtin und hatte sich auf die geschnitzten Möbel spezialisiert,
für die diese Gegend um Birtin berühmt war. Alexandru hatte
ihr in seiner E-Mail mitgeteilt, dass er zwar die Personen auf
dem Porträt nicht identifizieren könne, dafür aber mit
Sicherheit diesen Stuhl. Dieser sei in einem Dorf in der Nähe
von Birtin als Hochzeitsstuhl gefertigt worden und stehe jetzt
in einem Museum in Birtin. Caroline hatte ihm nichts von
diesem Brief erzählt, wollte sich lieber mit ihm von Angesicht
zu Angesicht unterhalten. Als sie auf dem Bahnsteig einen
Mann stehen sah, war sie sicher, dass das nur Milos Alexandru
sein konnte. Er war ein kleiner vogelartiger Mann in einem
adretten Anzug mit Krawatte, der so eifrig in den einfahrenden
Zug spähte wie Caroline auf den Bahnsteig, und als Caroline
ausstieg, kam er sofort auf sie zugeeilt.
    Zwei Stunden später, nachdem Alexandru sie in einem Hotel
untergebracht, sich von Caroline zum Mittagessen einladen und
es sich danach nicht hatte nehmen lassen, ihr sein Geschäft zu
zeigen, schaffte sie es schlussendlich noch, sich im Museum
den Stuhl auf diesem Porträt anzuschauen. »Er ist in Gretzli
gemacht worden«, erklärte er ihr. »Die Tischler in diesem Dorf
waren bis zum Ende des letzten Jahrhunderts berühmt für ihre
Hochzeitsstühle. Des Neunzehnten meine ich natürlich. Jeder
dieser Stühle war ein Unikat, eigens für die Stadt entworfen, in
der er stehen sollte. Dieser hier wird als der Kostbarste
erachtet, der je die Werkstätten von Gretzli verlassen hat.
Selbst heute nach über dreihundert Jahren steht er da wie neu.
Kein einziger Riss – das Holz muss mindestens fünfzehn bis
zwanzig Jahre gelagert haben, ehe es ein Stemmeisen berührte.
Und erst die Schnitzereien! Sehen Sie sich diese Engel auf den
Armlehnen an, die Trompete blasen – man kann sie beinahe
hören. Und die Rückenlehne; haben Sie schon je eine solche
Arbeit gesehen?«
    In das dicke Eichenholz war in tiefem Relief eine Waldszene
geschnitzt – die Baumstämme dabei so perfekt herausgearbeitet, dass man beinahe glaubte, die Rinde fühlen zu
können, die Blätter so akkurat, dass man sie im Wind rascheln
zu hören vermeinte. Das Sonderbare war, dass Caroline die
Schnitzereien immer vertrauter vorkamen, je länger sie sie
betrachtete. Und dann, als sie eine kleine Figur – einen Dämon
– entdeckte, wusste sie warum. Die reliefartige Szene auf der
Rückenlehne des Stuhls war identisch mit der Szene, die in
gleichsam perfekter Trompe-l’CEil-Arbeit auf der Decke der
Eingangshalle des Rockwell prangte. Ihr Blick hing immer
noch fasziniert an der Schnitzerei, als Alexandru vernehmlich
seufzte.
    »Schwer zu glauben, dass das alles ist, was übrig geblieben
ist.« Caroline sah ihn fragend an. »Die Stadt«, fuhr Alexandru
fort. »Gretzli – außer diesem Stuhl ist nichts mehr davon
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